Lebenserwartung: Deutschland in Westeuropa unter den Schlusslichtern15. Mai 2023 Foto: ©Hyejin Kang/stock.adobe.com Deutschland weist im Vergleich zu anderen Ländern Westeuropas nur eine unterdurchschnittliche Lebenserwartung auf. Geschuldet ist dies vor allem mangelnder Prävention und rechtzeitiger Behandlung kardiovaskulärer Erkrankungen. Die Deutsche Gesellschaft für Kardiologie (DGK) fordert daher, einen nationalen „Masterplan für kardiovaskuläre Gesundheit“ zu etablieren. Laut den Daten der Human Mortality Database aus dem Jahr 2019 belegt die Bundesrepublik unter 16 westeuropäischen Ländern im Hinblick auf die durchschnittliche Lebenserwartung bei den Männern Rang 15, bei den Frauen Rang 14. Spitzenreiter bei den Frauen sind Spanien und Frankreich, bei den Männern die Schweiz und Schweden. Wesentliche Ursache für den Rückstand ist eine erhöhte Zahl von Todesfällen aufgrund von Herz-Kreislauf-Erkrankungen, die sich sowohl aus Defiziten bei der Vorbeugung wie auch aus einer späten Diagnose und damit unzureichenden Behandlung ergeben. Zu diesem Ergebnis kommt eine neue Studie, die Forschende aus dem Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung (BiB) und dem Max-Planck-Institut für demografische Forschung im „European Journal of Epidemiology“ veröffentlicht haben. Zu viele Todesfälle durch Herz-Kreislauf-Erkrankungen Für die Studie wurden die Sterbefälle nach Todesursachen in Deutschland mit sechs ausgewählten Ländern (Frankreich, Japan, Schweiz, Spanien, Vereinigtes Königreich, Vereinigte Staaten von Amerika) verglichen. Im Vergleich zu Vorreiterländern bei der Verlängerung der Lebenserwartung wie Japan, Spanien, der Schweiz und Frankreich schneidet Deutschland gerade bei Herz-Kreislauf-Erkrankungen schlecht ab. Beim Vergleich nach Alter treten bei Männern bereits ab einem Alter von 50 Jahren Lebenserwartungsrückstände gegenüber den Vorreiterländern auf. So verliert Deutschland gegenüber der Schweiz allein fast ein Jahr an Lebenserwartung aufgrund erhöhter Todeszahlen im Alter zwischen 50 und 65 Jahren. Bei Frauen erklärt sich der Rückstand dagegen überwiegend aus erhöhter Sterblichkeit in Altern über 65 Jahren. Die Befunde lassen dem BiB zufolge darauf schließen, dass es gerade bei den Herz-Kreislauf-Erkrankungen Defizite bei der Vorbeugung gibt. Zu späte Diagnosen würden zudem eine erfolgreiche Behandlung erschweren. „Unsere Analysen verdeutlichen den Nachholbedarf, den Deutschland in diesem Bereich hat“, meint Sebastian Klüsener, Forschungsdirektor am BiB. Geringe Lebenserwartung trotz kostenintensivem Gesundheitssystem „Dass Deutschland bei Herz-Kreislauf-Erkrankungen deutlich zurückliegt, ist Anlass zur Sorge, da diese heutzutage als weitgehend vermeidbar gelten“, erklärt Mortalitätsforscher und Studienautor Pavel Grigoriev vom BiB mit Blick auf diese alarmierenden Ergebnisse. Die Schere zwischen den hohen deutschen Gesundheitsausgaben und der dennoch verzeichneten geringen Lebenserwartung bereitet ihm Sorge. „Große wirtschaftliche Stärke und ein für den Großteil der Bevölkerung gut zugängliches und leistungsfähiges Gesundheitssystem stehen in Kontrast zu einer westeuropäischen Schlusslichtposition bei der Lebenserwartung“, urteilt Grigoriev. Dieser Widerspruch sei auch als Warnsignal für die Nachhaltigkeit des Gesundheitssystems zu bewerten – schließlich würden die gesundheitlichen Herausforderungen aufgrund der Alterung der Babyboomer in den nächsten Jahren noch mehr ansteigen. DGK begrüßt neue Aufmerksamkeit für das Thema „Die kardiologischen Fachgesellschaften beklagen seit Jahren die Missstände in der Gesundheitspolitik, die Unterfinanzierung des Deutschen Zentrums für Herz-Kreislaufforschung sowie die Defizite hinsichtlich der Aufklärung der Gesellschaft bei Präventions- und Notfallmaßnahmen, (Früh-) Selbst-Diagnostik und der Wahrnehmung von gesundheitsfördernden Angeboten“, schreibt die DGK in einer Stellungnahme unter Bezugnahme auf die aktuelle Studie des BiB. Bereits im Herbst 2021 publizierte die Fachgesellschaft gemeinsam mit der Deutschen Herzstiftung, der Deutschen Gesellschaft für Thorax-, Herz- und Gefäßchirurgie (DGTHG), der Deutschen Gesellschaft für Pädiatrische Kardiologie und Angeborene Herzfehler (DGPK) und dem Präsidenten der European Society of Cardiology (ESC) ein Positionspapier zur Forderung einer Nationalen Herzkreislauf-Strategie. Auf die Initiative der DGK hin entstand daraufhin die Nationale Herz-Allianz (NHA), der sich weiterhin der Bundesverband Niedergelassener Kardiologen (BNK), die Arbeitsgemeinschaft Leitende Kardiologische Krankenhausärzte (ALKK) sowie das Deutsche Zentrum für Herz-Kreislauf-Forschung (DZHK) anschlossen. Das selbst erklärte Ziel der Allianz ist es, Konzepte zur Forschungsförderung, zur Verbesserung der Digitalisierung im Gesundheitswesen, zu Präventionsmaßnahmen und zur Verzahnung zwischen Kliniken und niedergelassenen Ärztinnen und Ärzten zu entwickeln, um so die Situation der Herzforschung und Patientenversorgung in der Bundesrepublik nachhaltig zu verbessern. In der aktuellen Stellungnahme nennt die DGK – stellvertretend für die NHA – neben Prävention und Diagnostik auch Versäumnisse bei den Notfall-Maßnahmen als Gründe für die niedrige Lebenserwartung der Deutschen im internationalen Vergleich, trotz der finanziellen Vorzüge, die die Bundesrepublik als führende Volkswirtschaft in Europa genießt. Prävention und Diagnostik Die Prävention sei als Schwerpunkt in Deutschland noch nicht ausreichend etabliert, kritisiert die DGK. Beispielhaft führt sie an, dass weniger als 20 Prozent der Hochrisiko-Patientinnen und -Patienten für Atherosklerose in Deutschland die gewünschten Zielwerte beim LDL-Cholesterin erreichen. Darüber hinaus ist in Deutschland – anders als in anderen Ländern – das frühkindliche Screening für die relativ häufige Erbkrankheit familiäre Hypercholesterinämie (FH) nicht etabliert. „Weniger als fünf Prozent der Fälle werden erkannt, Betroffene erleiden häufig bereits in jungen Jahren ohne Selbstverschulden durch ungünstige Lebensumstände einen Herzinfarkt durch Gefäßverschluss“, betont die DGK. Ein einfacher, kostengünstiger Bluttest im Rahmen der U9- bis J1-Untersuchung bei Kleinkindern könne hier wichtige Hinweise auf Vorhandensein einer FH geben und eine rechtzeitige Therapie der Betroffenen ermöglichen. Auch in puncto Grippeschutzimpfung stellt die DGK den Deutschen ein schlechtes Zeugnis aus. Es sei seit Jahren bekannt, dass Herzkranke ein sechsmal höheres Risiko haben, einen Myokardinfarkt zu erleiden, wenn sie sich mit der Grippe infizieren. Dennoch habe Deutschland eine der niedrigsten Impfquoten für Influenza überhaupt, insbesondere innerhalb der Gruppe der Hochrisiko-Patientinnen und -Patienten mit Herzerkrankungen. Durch routinemäßiges Impfen, zum Beispiel in Kliniken bei Personen mit akutem Herzinfarkt, könnten laut DGK viele Sterbefälle verhindert werden. Das habe die IAMI-Studie gezeigt. Desweiteren bemängelt die DGK, dass Screenings, etwa für arterielle Hypertonie oder Hypercholesterinämie, in Deutschland nicht etabliert sind – anders als zum Beispiel Krebsscreenings für Colon-CA, Prostata-CA oder Brustkrebs. Dabei machten im Jahr 2021 laut der aktuellsten Erhebung des Statistischen Bundesamtes kardiovaskuläre Ereignisse ein Drittel (33,3%) der Todesursachen in der Bundesrepublik aus, Krebserkrankungen hingegen weniger als ein Viertel (22,4%). „Dem ist hinzuzufügen, dass die Number-needed-to-screen für arterielle Hypertonie bzw. Hypercholesterinämie um ein Vielfaches geringer als bei den genannten Krebs-Erkrankungen ist und damit eine viel höhere Effektivität erreichen kann. Wir plädieren daher für die Aufnahme eines regelmäßigen Herz-Check-Ups ab einem Alter von 50 Jahren in die medizinische Grundversorgung“, erklärt die DGK. Ebenfalls nicht in Deutschland etabliert ist ein Screening für Herzinsuffizienz. Da insbesondere Herzinsuffizienz besser behandelt werden kann, je früher sie erkannt wird, könnten die Betroffenen bei rechtzeitiger Diagnose und Therapie nicht nur länger leben, sondern auch eine weitaus höhere Lebensqualität genießen. Notfall-Maßnahmen Deutschland liegt im europäischen Vergleich im unteren Drittel bei der Bereitschaft in der Bevölkerung, im Notfall eine Herz-Lungen-Reanimation bei einer fremden Person durchzuführen. Diese Quote könnte nach Ansicht der DGK durch verpflichtenden Unterricht in Schulen für Reanimationsschulungen perspektivisch wie in anderen Ländern deutlich erhöht werden – eine Forderung, für die sich auch der Deutsche Rat für Wiederbelebung (GRC) seit Jahren stark macht. Weiterhin bemängelt die kardiologische Fachgesellschaft, dass in Deutschland das eigentlich in den Leitlinien empfohlene telefonische Anleiten von Laien bei der Reanimation durch die Rettungsleitstellen viel zu selten angewendet werde. Auch eine App-basierte Alarmierung für Ersthelfer werde in Deutschland nur in weniger als fünf Prozent der Fälle genutzt. Dabei könnten geschulte Ersthelfer, die sich in der Nähe befinden, mittels dieser Software zielgenau zu den Patientinnen und Patienten geführt werden, wo sie ihnen lebenswichtige Zeit durch Reanimation und Anleitung von Umstehenden erkaufen könnten, bis die Rettungskräfte eintreffen. Nationale Herz-Allianz fordert Masterplan für kardiovaskuläre Gesundheit „Die hier genannten beispielhaften Maßnahmen könnten bei flächendeckender Umsetzung die Überlebensrate bei plötzlichem Herztod in Deutschland massiv erhöhen. Keine dieser Maßnahmen ist grundsätzlich neu oder utopisch, sondern werden in anderen (europäischen) Ländern teilweise seit Jahren erfolgreich praktiziert“, so die Conclusio der DGK. Daher setze sich die NHA in allen Belangen gegenüber politischen Entscheidern und Kostenträgern dafür ein, dass auch in Deutschland ein Masterplan für kardiovaskuläre Gesundheit etabliert werde und zukünftig eine flächendeckende und vor allem merklich bessere Diagnostik, Prävention sowie Aufklärung von Patientinnen und Patienten stattfinden könne. (ah)
Mehr erfahren zu: "Semaglutid: Kardiovaskulärer Nutzen unabhängig von Gewichtsverlust" Weiterlesen nach Anmeldung Semaglutid: Kardiovaskulärer Nutzen unabhängig von Gewichtsverlust Bei übergewichtigen Patienten ohne Diabetes kann der GLP-1-Rezeptoragonist Semaglutid das Risiko für Herz-Kreislaufprobleme reduzieren. Ob und wieviel Gewicht sie verlieren, scheint dabei keine Rolle zu spielen, wie neueste Datenanalysen nun […]
Mehr erfahren zu: "Genetischer Auslöser für Adipositas schützt gleichzeitig das Herz" Genetischer Auslöser für Adipositas schützt gleichzeitig das Herz Es klingt paradox: Eine genetische Mutation, die zu starker Adipositas führt, reduziert gleichzeitig das Risiko von Herzkrankheiten und senkt Cholesterinwerte. Doch genau das konnten Forschende der Ulmer Universitätsmedizin nun zeigen.
Mehr erfahren zu: "Kritik an Apothekenreform: ALM sieht Gesundheitsversorgung gefährdet" Kritik an Apothekenreform: ALM sieht Gesundheitsversorgung gefährdet Die geplante Apothekenreform des Bundesgesundheitsministeriums greift nach Ansicht des Verbandes Akkreditierte Labore in der Medizin (ALM) unnötig in bewährte Versorgungsstrukturen ein. Patientenzentrierte und qualitätsorientierte Labordiagnostik sei integraler Bestandteil guter Medizin […]