Lithium – Ein neuer Schlüssel zur Alzheimer-Therapie?7. August 2025 Obere Reihe: In einem Mausmodell der Alzheimer-Krankheit führte Lithiummangel (r.) zu einer deutlichen Zunahme der Amyloid-beta-Ablagerungen im Gehirn im Vergleich zu Mäusen mit normalen physiologischen Lithiumwerten (l.). Untere Reihe: Dasselbe galt für das Tau-Protein. (Quelle: © Yankner Lab) Was ist der Trigger, der den Gedächtnisverlust durch Alzheimer auslöst? Warum entwickeln manche Menschen mit Alzheimer-ähnlichen Veränderungen im Gehirn nie eine Demenz? Diese Fragen beschäftigen Neurowissenschaftler seit Jahrzehnten. Nun hat ein Forscherteam aus den USA möglicherweise eine Antwort gefunden: Lithiummangel im Gehirn. In ihrer Studie, die in „Nature“ veröffentlicht wurde, zeigen die Wissenschaftler der Harvard Medical School zum ersten Mal, dass Lithium natürlich im Gehirn vorkommt, es vor Neurodegeneration schützt und die normale Funktion aller wichtigen Gehirnzelltypen aufrechterhält. Die Ergebnisse – die zehn Jahre lang erarbeitet wurden – basieren auf einer Reihe von Experimenten an Mäusen und auf Analysen von menschlichem Gehirngewebe und Blutproben von Personen in verschiedenen Stadien der kognitiven Gesundheit. Die Forschenden fanden heraus, dass der Lithiumverlust im menschlichen Gehirn eine der frühesten Veränderungen ist, die zu Alzheimer führen, während bei Mäusen ein ähnlicher Lithiummangel die Gehirnpathologie und den Gedächtnisverlust beschleunigte. Das Team fand außerdem heraus, dass der verringerte Lithiumspiegel auf die Bindung an Amyloid-Plaques und eine beeinträchtigte Aufnahme im Gehirn zurückzuführen ist. In einer letzten Versuchsreihe stellte das Team fest, dass eine neuartige Lithiumverbindung, die eine Bindung an Amyloid-Plaques verhindert, das Gedächtnis von Mäusen wiederherstellte. Ist Lithiummangel eine Ursache für Alzheimer? Die Alzheimer-Krankheit geht mit einer Reihe von Hirnanomalien einher, darunter Ablagerungen des Proteins Amyloid-beta, neurofibrilläre Verwicklungen des Proteins Tau und der Verlust eines schützenden Proteins namens REST, die jedoch nie die gesamte Krankheitsgeschichte erklären konnten. So zeigen beispielsweise einige Menschen mit solchen Anomalien keine Anzeichen eines kognitiven Abbaus. Und kürzlich entwickelte Behandlungen, die auf Amyloid-beta abzielen, kehren den Gedächtnisverlust in der Regel nicht um und verlangsamen den Verfall nur geringfügig. Auch genetische und umweltbedingte Faktoren das beeinflussen Alzheimer-Risiko, aber Wissenschaftler haben noch nicht herausgefunden, warum manche Menschen mit denselben Risikofaktoren die Krankheit entwickeln und andere nicht. Den Autoren der aktuellen Studie zufolge könnte Lithium das entscheidende, bislang fehlende Glied sein. „Die Idee, dass Lithiummangel eine Ursache für Alzheimer sein könnte, ist neu und legt einen anderen therapeutischen Ansatz nahe“, erklärt der leitende Autor Bruce Yankner, Professor für Genetik und Neurologie am Blavatnik Institute der HMS, der in den 1990er-Jahren nachweisen konnte, dass Amyloid-beta toxisch ist. Entsprechend wecke die Studie die Hoffnung, dass Lithium eines Tages zur Behandlung der gesamten Krankheit eingesetzt werden könnte, anstatt sich auf einen einzelnen Aspekt wie Amyloid-beta oder Tau zu konzentrieren, fährt Yankner fort. Lithiumorotat kehrt die Alzheimer-Pathologie um Eine der wichtigsten Entdeckungen der Studie ist, dass Amyloid-beta, wenn es sich in den frühen Stadien der Demenz sowohl bei Menschen als auch in Mausmodellen abzulagern beginnt, an Lithium bindet und dessen Funktion im Gehirn beeinträchtigt. Der niedrigere Lithiumspiegel wirkt sich auf alle wichtigen Gehirnzelltypen aus und führt bei Mäusen zu Veränderungen, die denen der Alzheimer-Krankheit ähneln, darunter Gedächtnisverlust. Die Autoren identifizierten eine Klasse von Lithiumverbindungen, die sich der Bindung durch Amyloid-beta entziehen können. Die Behandlung von Mäusen mit der wirksamsten dieser Verbindungen, Lithiumorotat, kehrte die Alzheimer-Pathologie um, verhinderte die Schädigung der Gehirnzellen und stellte das Gedächtnis wieder her. Obwohl die Ergebnisse noch in klinischen Studien am Menschen bestätigt werden müssen, deuten sie den Forschenden zufolge darauf hin, dass die Messung des Lithiumspiegels bei der Früherkennung von Alzheimer helfen könnte. Darüber hinaus weisen die Ergebnisse darauf hin, wie wichtig es ist, Lithiumverbindungen, die Amyloid umgehen, für die Behandlung oder Prävention zu testen. Keine Lithiumtoxizität Andere Lithiumverbindungen werden bereits zur Behandlung von bipolaren Störungen und schweren Depressionen eingesetzt, jedoch in viel höheren Konzentrationen, die insbesondere für ältere Menschen toxisch sein können. Yankners Team fand heraus, dass Lithiumorotat in einer tausendfach geringeren Dosis wirksam ist – genug, um den natürlichen Lithiumspiegel im Gehirn nachzuahmen. Mäuse, die fast ihr gesamtes Erwachsenenleben lang behandelt wurden, zeigten keine Anzeichen von Toxizität. „Man muss vorsichtig sein, wenn man Schlussfolgerungen aus Mausmodellen zieht, und man weiß es nie, bevor man es nicht in einer kontrollierten klinischen Studie am Menschen ausprobiert hat“, gibt Yankner zu bedenken. „Aber bisher sind die Ergebnisse sehr ermutigend.“ Lithiummangel ist ein frühes Anzeichen für Alzheimer Yankner begann sich für Lithium zu interessieren, als er es zur Untersuchung des neuroprotektiven Proteins REST verwendete. Um herauszufinden, ob Lithium im menschlichen Gehirn vorkommt und ob sich sein Gehalt mit der Entwicklung und dem Fortschreiten der Neurodegeneration verändert, untersuchte Yankners Team Postmortem-Hirngewebe und Blutproben von Tausenden Menschen mit dem gesamten Spektrum kognitiver Gesundheit und Erkrankung. In diesen Proben bestimmten die Forschenden mithilfe von Massenspektroskopie die Konzentration von etwa 30 verschiedenen Metallen. Lithium war dabei das einzige Metall, das in allen Gruppen deutlich unterschiedliche Werte aufwies und sich in den frühesten Stadien des Gedächtnisverlusts veränderte. Seine Werte waren bei kognitiv gesunden Spendern hoch, bei Menschen mit leichter Beeinträchtigung oder voll ausgeprägter Alzheimer-Krankheit jedoch stark verringert. Diese Ergebnisse konnte das Team an Proben aus mehreren Hirnbanken im ganzen Land replizieren. Zudem deckte sich die Beobachtung sich mit früheren Bevölkerungsstudien, die zeigten, dass höhere Lithiumwerte in der Umwelt, einschließlich des Trinkwassers, mit niedrigeren Demenzraten einhergingen. Weitreichende Folgen von Lithiummangel Eine lithiumarme Ernährung senkte bei gesunden Mäusen den Lithiumspiegel im Gehirn auf ein Niveau, das dem von Alzheimer-Patienten entspricht. Dies schien den Alterungsprozess zu beschleunigen und führte zu Entzündungen im Gehirn, zum Verlust synaptischer Verbindungen zwischen Neuronen und zu kognitivem Verfall. In Alzheimer-Mausmodellen beschleunigte Lithiummangel die Bildung von Amyloid-beta-Plaques und Strukturen, die neurofibrillären Tangles ähneln, dramatisch. Der Lithiummangel aktivierte auch Entzündungszellen im Gehirn und beeinträchtigte deren Fähigkeit, Amyloid abzubauen. Er führte zum Verlust von Synapsen, Axonen und der Myelinscheide und beschleunigte den kognitiven Verfall und den Gedächtnisverlust – allesamt Kennzeichen der Alzheimer-Krankheit. Die Mausversuche zeigten außerdem, dass Lithium die Aktivität von Genen veränderte, von denen bekannt ist, dass sie das Alzheimer-Risiko erhöhen oder senken, darunter das bekannteste Gen, APOE. Gedächtnisfunktion lässt sich durch Lithium wiederherstellen Die Auffüllung des Lithiumspiegels durch die Gabe von Lithiumorotat im Trinkwasser der Mäuse kehrte die krankheitsbedingten Schäden um und stellte die Gedächtnisfunktion wieder her, selbst bei älteren Mäusen mit fortgeschrittener Erkrankung. Bemerkenswert ist, dass die Aufrechterhaltung eines stabilen Lithiumspiegels in jungen Jahren das Auftreten von Alzheimer verhinderte – ein Befund, der bestätigt, dass Lithium den Krankheitsprozess antreibt. „Was mich an Lithium am meisten beeindruckt, ist seine weitreichende Wirkung auf die verschiedenen Erscheinungsformen von Alzheimer. Ich habe in all meinen Jahren, in denen ich mich mit dieser Krankheit beschäftigt habe, wirklich noch nichts Vergleichbares gesehen“, erklärte Yankner. Alzheimer-Risiko durch Lithium-Screening bestimmen Wenn sich diese Ergebnisse in weiteren Studien bestätigen, könnte laut den Forschern ein Lithium-Screening mittels routinemäßiger Blutuntersuchungen eines Tages eine Möglichkeit bieten, Personen mit einem Alzheimer-Risiko zu identifizieren, die von einer Behandlung zur Vorbeugung oder Verzögerung des Krankheitsausbruchs profitieren würden. Die Untersuchung des Lithiumspiegels bei Menschen, die im Alter resistent gegen Alzheimer sind, könnte Wissenschaftlern helfen, einen Zielwert zu ermitteln, den sie Patienten zur Vorbeugung der Krankheit empfehlen könnten, so Yankner. Da Lithium noch nicht als sicher oder wirksam zum Schutz vor neurodegenerativen Erkrankungen beim Menschen erwiesen ist, betont Yankner, dass Menschen Lithiumverbindungen nicht eigenmächtig einnehmen sollten. Er äußerte sich jedoch vorsichtig optimistisch, dass Lithiumorotat oder eine ähnliche Verbindung in naher Zukunft in klinische Studien übergehen und letztendlich die Geschichte der Alzheimer-Behandlung verändern könnte. „Ich hoffe, dass Lithium etwas Grundlegenderes bewirkt als Anti-Amyloid- oder Anti-Tau-Therapien, nämlich nicht nur den kognitiven Verfall zu verlangsamen, sondern umzukehren und das Leben der Patienten zu verbessern“, erklärte er. (BIERMANN/ej)
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