Lungenkrebs: Digitaler Zellzwilling eröffnet neue Wege in der Forschung

Christian Baumgartner, Leiter des Institute of Health Care Engineering der TU Graz. (Foto: © Helmut Lunghammer – TU Graz)

Ein an der TU Graz (Österreich) entwickeltes Computermodell hilft beim Verständnis des Wachstums von Krebszellen und wie man dieses stoppen kann. Das digitale Zellmodell ist ein weiterer Schritt hin zur individualisierten Krebstherapie.

Ein Team um Institutsleiter Prof. Christian Baumgartner am Institute of Health Care Engineering der TU Graz hat einen hoch detaillierten digitalen Zwilling der Lungenkrebszell-Linie A549 entwickelt. Dieser Zwilling verknüpft nach Angaben der Forschenden auf neuartige Art und Weise die bioelektrischen Prozesse und die Dynamiken von Kalzium im Zellinneren. Für das Überleben biologischer Zellen ist Kalzium ein elementarer Bestandteil, bei zu hoher intrazellulärer Konzentration kann es jedoch zum Zelltod führen – das macht es für die Krebstherapie so interessant.

Das im Projekt „DigLungCancer“ erarbeitete Zellmodell baut auf einem früheren Modell von 2021 auf, das laut der TU Graz als das weltweit erste digitale Ionenstrommodell einer menschlichen A549-Lungenadenokarzinomzell-Linie gilt. Mit dem verbesserten Modell lässt sich nun erforschen, wie Kalziumströme und elektrische Spannungen an der Zellhülle das Wachstum von Krebszellen beeinflussen. Diese Zellen sind zwar nicht erregbar im klassischen neurophysiologischen Sinn, zeigen jedoch elektrische Aktivitäten. Das digitale Modell bietet eine bislang unerreichte funktionelle Abbildung der zellulären Bioelektrik in Krebszellen, langfristig sollen so neue Angriffspunkte für Medikamente und computergestützte, individuelle Behandlungsstrategien gefunden werden. Gefördert hat das Projekt die Österreichische Krebshilfe Steiermark.

Einblick in Steuerung des Zellzyklus

„Ein wesentlicher Fortschritt unseres verbesserten Zellmodells ist die detaillierte Simulation der intrazellulären Kalziumverteilung“, sagt Baumgartner. „Dabei konnten wir erstmals sehr kleine Bereiche (Mikrodomänen) berücksichtigen, an denen sich Kalzium sammelt und wo das innere Zellnetzwerk eng an die Zellhülle grenzt. In diesen Bereichen regulieren CRAC-Kanäle (Calcium Release-Activated Calcium Channels) den Kalziumeinstrom, der eine zentrale Rolle spielt für die Aktivierung intrazellulärer Signalwege – einschließlich solcher, die den Zellzyklus beeinflussen. Diese Weiterentwicklung ermöglicht eine bisher unerreicht genaue Abbildung der elektrischen Vorgänge in Krebszellen. Sie berücksichtigt dabei Kalziumspeicher, Transportmechanismen, Pufferkapazitäten und lokale Ausbreitungseffekte innerhalb der Zelle.“

Im Kern besteht der digitale Zellzwilling aus Hunderten mathematischer Gleichungen, die für Computersimulationen zusammenfließen. Diese detaillierte digitale Zelle erlaubt es den Forschenden, die Auswirkungen von Medikamenten auf das Zellverhalten somit am Computer zu testen. Man kann zum Beispiel die Wirkung von Substanzen vorhersagen, die die Kalziumverteilung oder die Funktion von Ionenkanälen in bestimmten Bereichen beeinflussen. Dadurch lassen sich Annahmen über Zellwachstum oder möglichen Zelltod testen und im Fall relevanter Ergebnisse später im Labor überprüfen.

Es ist auch möglich, komplexe Kombinationen von Veränderungen an Ionenkanälen zu untersuchen, die im realen Labor nur schwer oder sehr zeitaufwendig nachzubilden wären. Bei ihren Untersuchungen konnten die Forschenden bereits zeigen, dass eine Hemmung bestimmter CRAC-Kanäle die lokale Kalziumdynamik verändert und die Aktivität anderer Kalzium-regulierter Signalwege beeinflusst. Dies kann dazu führen, dass es zur Unterbrechung des Zellzyklus oder zur Einleitung von Zelltodmechanismen kommt.

Nächster Schritt: Kommunikation mehrerer Zellen

Da das Modell bislang lediglich eine Zelle umfasst, sind wichtige Mechanismen, wie die Kommunikation zwischen Zellen in Zellhaufen, die Entwicklung eines Tumors, die Streuung von Krebszellen (Metastasierung) oder die Bildung neuer Blutgefäße im Tumor (Vaskularisierung) noch nicht abbildbar. Die nächsten Forschungsschritte sollen aber in diese Richtung gehen. Langfristig könnten die gewonnenen Erkenntnisse durch die Anpassung an spezifische Zelllinien oder Patientendaten zur personalisierten Krebsforschung und -behandlung beitragen. Eine Anwendung der Methodik auf andere Krebsarten, wie Brust- oder Prostatakrebs, ist laut den Forschenden möglich.