Lungenmediziner fordern strengeren Jugendschutz: Einfluss von E-Zigaretten und Nikotinindustrie kritisch untersucht

Lücken beim Jugendschutz werden von Herstellern und Vermarktern von E-Zigaretten ausgenutzt, meint die DGP. (Foto: © Sawoon/stock.adobe.com)

Die Deutsche Gesellschaft für Pneumologie und Beatmungsmedizin (DGP) fordert im Vorfeld ihres in dieser Woche stattfindenden Kongresses von der sich gerade bildenden Regierungskoalition, dass sie Kinder und Jugendliche vor dem „enormen Suchtpotenzial der bunten Nikotin-Produkte“ besser schützt als bisher.

„Die Tabakindustrie greift mit immer neuen Nikotinprodukten an – die Jugend ist dem nahezu schutzlos ausgesetzt“, betont DGP-Präsident Prof. Wolfram Windisch mit Blick auf die in den Markt drängenden E-Zigaretten, Tabakerhitzer und Nikotinbeutel. „Damit ziehen wir uns kontinuierlich neue Generationen von Nikotin-Abhängigen heran.“ Schon jetzt verursachten rauchbedingte Erkrankungen jährlich fast 100 Milliarden Euro an ökonomischen Kosten, so die DGP. „Neueste Untersuchungen zeigen, dass Produkte verharmlost werden, falsche Versprechungen zur Tabakentwöhnung kursieren und Lücken beim Jugendschutz schamlos ausgenutzt werden“, ergänzt Windisch.

Fordern einen konsequenten Jugendschutz (v.o.l.n.u.r.): Wolfram Windisch, Claudia Bauer-Kemeny, Matthias Urlbauer, Stefan Andreas, Waltraud Posch und Alexander Rupp (Foto: © privat, DGP und Lungenfachklinik Immenhausen)

Wie die Nikotinindustrie den Einfluss von Influencern und Lieferdiensten nutzt, haben Dr. Claudia Bauer-Kemeny und Matthias Urlbauer untersucht. „Auch wenn das Tabakerzeugnisgesetz konkret Werbung für Tabak und nikotinhaltige elektronische Zigaretten im Internet verbietet, werben Influencer über ihre Social-Media-Kanäle illegal für Tabak- und andere Nikotinprodukte“, sagt Bauer-Kemeny, Leiterin der Abteilung Prävention der Thoraxklinik am Universitätsklinikum Heidelberg. Zahlen des Deutschen Krebsforschungszentrums (DKFZ) zeigen: Mehr als 40 Prozent der bekanntesten deutschen Rap-Musiker werben in den sozialen Medien für E-Zigaretten oder Shisha-Tabak. Ihre Zielgruppe sind die unter 20-Jährigen – erreicht werden Millionen von Followern. „Bestehende Werbebeschränkungen für Tabak und E-Zigaretten werden von den Behörden in Deutschland nicht konsequent kontrolliert und umgesetzt“, unterstreicht die Zahnmedizinerin.

Jugendschutz nicht ausreichend

In Deutschland regelt der Jugendschutz, dass Tabakwaren und andere nikotinhaltige Erzeugnisse und deren Behältnisse an Kinder oder Jugendliche nicht abgegeben werden dürfen. Auch in Automaten – die für Kindern und Jugendlich zugänglich sind – darf es keines dieser Angebote geben. „Wir haben bei unseren Beobachtungen auch Automaten mit verschiedenen E-Zigaretten entdeckt, die keine 30 Meter von einer Schule entfernt stehen“, sagt Matthias Urlbauer“, Arzt der Medizinischen Klinik III mit Schwerpunkt Pneumologie am Klinikum Nürnberg – Universitätsklinik der Paracelsus Medizinischen Privatuniversität Nürnberg. Ganz besonders leicht werde es einem bei Online-Händlern gemacht: „Die Alterskontrolle wird zum Teil umgangen, häufig reicht es, den Button ‚Ich bin über 18‘ für Bestellungen anzuklicken, Altersnachweise wie das Hochladen des Ausweises sind nicht immer erforderlich und Entgegen der Angaben von Lieferdiensten gibt es häufig auch keine Alterskontrolle bei der Auslieferung“, berichtet Urlbauer, der in seiner Klinik die Tabakentwöhnung leitet.

Auch Nikotinbeutel seien im Internet problemlos ohne echte Alterskontrolle erhältlich – obwohl das Inverkehrbringen von Nikotinbeuteln in Deutschland derzeit verboten ist. „Der Jugendschutz im Hinblick auf Tabak- und andere nikotinhaltige Produkte wird nicht ausreichend umgesetzt. Notwendig sind eine strengere Regulierung, stärkere Kontrollen und höhere Strafen bei Zuwiderhandlungen“, betont Urlbauer.

DGP: E-Zigaretten für eine effektive Tabakentwöhnung nicht geeignet

Auch auf die Darstellungen der Industrie zur E-Zigarette als Möglichkeit zur Tabakentwöhnung hat die DGP eine klare Haltung: „Die E-Zigarette zur Entwöhnung ist nicht wirksamer als eine kombinierte Nikotinersatztherapie, bei der Nikotin über pharmazeutische Nikotinersatztherapeutika wie Pflaster, Kaugummis, Tabletten oder Sprays zugeführt wird, um die Entzugserscheinungen und das Verlangen nach Nikotin zu lindern“, hält Prof. Stefan Andreas fest, Sprecher der DGP-Sektion Tabakprävention und Gesundheitsfürsorge. „Unsere Untersuchungen zeigen: 50 Prozent derjenigen, die von der Tabakzigarette auf die E-Zigarette umsteigen wollen, rauchen am Ende beides. Und diese Doppelnutzung führt nur selten zur Entwöhnung“, erklärt der Chefarzt der Lungenfachklinik Immenhausen, Pneumologische Lehrklinik der Universitätsmedizin Göttingen.

Mit Blick auf die Analyse von Erkrankungen des Herz-Kreislauf-Systems und des Stoffwechsels fasst Andreas zusammen: „Nach einer aktuellen Metaanalyse sind E-Zigarette etwa so gefährlich wie Tabakzigaretten. E-Zigaretten sind deutlich gefährlicher als Nichtrauchen. Und die Doppelnutzung, der sogenannte ‚Dual Use‘, wirkt sich auf die Gesundheit gefährlicher aus als Tabakzigaretten allein.“ Einen kritischen Blick wird Andreas auch auf den Einfluss der Nikotinindustrie auf Forschungsarbeiten: „Finanziert die Industrie die Arbeit mit, hat das vielfach Einfluss auf die Ergebnisse: Es wird kaum eine schädliche Wirkung der E-Zigarette angezeigt. Anders bei fast allen wissenschaftlichen Publikationen ohne ausgewiesene Interessenskonflikte mit der Industrie: Diese zeigen die potenziell schädlichen Effekte der E-Zigarette deutlich auf.“

Sprache der Tabakindustrie durchschauen und kritisch hinterfragen

Die Nikotinindustrie nutze Sprache dazu, um ihre neueren Nikotinprodukte zu vermarkten und als relativ harmlos zu charakterisieren, sagt die DGP. Das Framing der Tabak- und Nikotinindustrie vermeide dementsprechend Begrifflichkeiten wie „Rauchen“, „Zigarette“, „Schaden“ und „Sucht“. Stattdessen verwende sie Begriffe wie „risikoreduziert“, „rauchfrei“, „tabakfrei“ „dampfen“ und „alternative Produkte“, welche angenehm und ungefährlicher klingen. Diese Sprache könne als Teil einer gezielten Marketingstrategie der Tabak- und Nikotinindustrie verstanden werden, die das Risiko, das mit dem Konsum von Nikotinprodukten verbunden ist, als gering darstellt.

Die Soziologin Waltraud Posch von VIVID – Fachstelle für Suchtprävention in Graz (Österreich) sagt: „Sprache schafft Wirklichkeit. Sie beeinflusst das Denken, die Deutung der Wirklichkeit und wofür wir Handlungen wichtig finden – oder eben nicht.“ Daher brauche es eine klare Nomenklatur, die das Gefährdungs- und Suchtpotenzial von Nikotinprodukten widerspiegeln. „Es ist wichtig, die Sprache der Tabak- und Nikotinindustrie zu durchschauen und kritisch zu hinterfragen. Denn die Tabak- und Nikotinindustrie benennt ihre neuen Produkte mit harmlosen, angenehmen Begriffen und vermeidet damit, Nikotinprodukte und deren Konsum entsprechend ihrem Gefährdungspotenzial zu benennen.“