Menschliche Innenohr-Zellen aus dem Reagenzglas

Audiologische Untersuchung, Universitätsklinik für Hals-, Nasen- und Ohrenkrankheiten (HNO), Kopf- und Halschirurgie, Inselspital. Foto: © Tanja Läser für Insel Gruppe AG

Erstmals ist es gelungen, menschliche Innenohr-Zellen im Labor zu erzeugen und deren Herkunft zu untersuchen. Dadurch können künftig neue Behandlungsmethoden für Schwerhörigkeit besser erforscht werden.

Rund fünf Prozent der Weltbevölkerung leidet an Schwerhörigkeit. Sie hat weitreichende Auswirkungen für die Betroffenen und die Gesellschaft als Ganzes. Allein der Hörverlust bei Erwachsenen zählt zu den fünf grössten Krankheitslasten in Europa und verursacht enorme sozioökonomische Kosten. Die Hörfähigkeit kann zwar mit Hörgeräten oder Implantaten verbessert werden, eine wirksame Ursachenbehandlung bei Hörbeeinträchtigungen gibt es aber bis heute nicht.

Eine Gruppe von Forschenden des Department of Biomedical Research (DBMR) der Universität Bern und der Universitätsklinik für Hals-, Nasen- und Ohrenkrankheiten (HNO), Kopf- und Halschirurgie des Berner Inselspitals hat nun in Zusammenarbeit mit weiteren Beteiligten des internationalen Konsortiums «OTOSTEM» einen großen Schritt in Richtung Ursachentherapie von Schwerhörigkeit gemacht. Erstmals gelang es ihnen, die Entwicklung von menschlichen Haarzellen des Innenohrs in-vitro nachzuahmen. Damit wird es in Zukunft möglich sein, neue Behandlungsmethoden für Hörbeeinträchtigung direkt an menschlichen Zellen zu erproben. 

Menschliche Cochlea nach zehn Wochen Entwicklungszeit, immungefärbt zur Identifizierung von Haarzellenvorläufern: «CD271» in gelb, «p27» in grün. Foto: © Marta Roccio und Michael Perny, Inner Ear Research Laboratory, Department for BioMedical Research (DBMR), Universität Bern

Haarzellen und Spiralganglienzellen, die den Hörnerv bilden, entstehen sehr früh in der fetalen Entwicklung, etwa in der zehnten bis elften Schwangerschaftswoche. Bereits in diesem Stadium erreichen sie ihre endgültige Zahl. “Wir werden mit rund 15.000 Haarzellen und 30.000 Spiralganglienzellen geboren, von da an nimmt ihre Zahl nur noch ab”, so Marta Roccio. Laute Geräusche, Infektionen, Alterungsprozesse oder auch die Belastung durch Giftstoffe wie etwa verschiedene Antibiotika setzen den Sinneszellen fortan zu. Da die Zellen bisher nicht ersetzt werden können, führt ihr Verlust zu einer dauerhaften Hörschädigung.

Innenohr-Zellen aus dem Labor

“Wir konnten in unserer Studie zeigen, dass vieles, was wir bereits aus dem Tiermodell kennen, auch für die menschliche fetale Entwicklung der Sinneszellen zutrifft”, sagt Roccio. Dank dieser Erkenntnis konnten die Forschenden eine kleine Population von Stammzellen-ähnlichen Vorläuferzellen identifizieren, die nach mehrwöchiger struktureller und funktioneller Differenzierung schließlich die Haarzellen der Cochlea bilden. “Wir haben eine Methodik entwickelt, um diese Vorläufer aus der menschlichen fötalen Cochlea zu isolieren und im Labor schließlich die Bedingungen für die in-vitro-Generierung funktioneller Haarzellen optimiert”, erklärt Roccio. Dazu verwendeten die Forschenden dreidimensionale Kulturen, auch bekannt als Organoide.

“Die Ergebnisse der nun publizierten Studie stellen eine einzigartige Vorlage für zukünftige Forschungsprojekte auf dem Gebiet dar, um neue Strategien zur Bekämpfung von neurosensorischem Hörverlust zu entwickeln”, erklärt der Mitautor Pascal Senn. Denn die Ergebnisse würden einen Bauplan liefern für die Erzeugung von Cochlea-Haarzellen aus anderen, häufigeren Zellquellen, wie beispielsweise pluripotenten Stammzellen, so Senn weiter. Dies werde den Weg für Tests ebnen, die auf patienteneigenen Zelltypen basieren und eine individuellere Behandlung ermöglichen.