Mobilität als Gradmesser für Erkrankungen13. Mai 2021 Foto: ©Robert Kneschke – stock.adobe.com Mitte April startete eine europaweite klinische Studie mit 2400 Patienten, die zeigen soll, dass digitale Sensoren Bewegungen so exakt messen können, dass die Mobilität von Patienten ein Standard-Gradmesser für medizinische Entscheidungen wird. Langzeit-Messungen zum Blutdruck und Herzschlag mittels Elektrokardiogramm (EKG) gehören zum Standard-Programm der medizinischen Versorgung. Da die Mobilität der Menschen ebenfalls ein sehr aussagekräftiges Maß für Erkrankungen ist, sollen Messungen zu den Bewegungen im Alltag von Patienten bald ebenfalls ein Untersuchungs-Standard werden. „Dafür muss die Mobilität exakt messbar sein“, sagt Prof. Clemens Becker, Chefarzt der Abteilung für Altersmedizin und Geriatrische Rehabilitation am Stuttgarter Robert-Bosch-Krankenhaus (RBK). Er ist wissenschaftlicher Leiter der klinischen Studie des Projekts MOBILISE-D, das die Europäische Union mit 50 Millionen Euro finanziert. Ziel des europaweit durchgeführten Projekts ist es, mit Hilfe von Sensoren die Mobilität von Menschen so exakt zu messen, dass sie Grundlage für medizinische Entscheidungen sein kann. Mit digitaler Technik Bewegungsmuster genau analysieren Stuttgart, Barcelona, Athen – in insgesamt 15 Städten in ganz Europa werden in den kommenden zwei Jahren 2400 Patienten mit unterschiedlichen Krankheitsbildern einen Gürtel mit einem Kästchen in Größe einer Streichholzschachtel tragen. Darin steckt eine Menge digitale Technik, die Gehgeschwindigkeit, Schrittlängen und Gangunregelmäßigkeiten der Patienten präzise messen kann – sowie Auf- und Abwärtsbewegungen wie zum Beispiel beim Treppensteigen. „Wir haben eine neue Messmethode entwickelt, die in Zukunft helfen kann, Diagnosen zu stellen, sich für bestimmte Therapien zu entscheiden und die Therapie zu überwachen“, erklärt Becker. Alter und Krankheiten verändern die Mobilität der Menschen, aber auch Therapien und Medikamente können großen Einfluss auf die Beweglichkeit nehmen. „Nimmt man zum Beispiel einen ACE-Hemmer gegen Bluthochdruck, läuft man nach drei Jahren in der Regel noch genauso gut. Bei einem Betablocker geht man etwa drei bis fünf Prozent langsamer“, weiß der Studienleiter von seinen Forschungen. Ein Ziel des Projektes ist es, die weltweiten Zulassungsbehörden zu überzeugen, nur noch Medikamente zuzulassen, bei denen auch die Auswirkungen auf die Beweglichkeit der Menschen untersucht und belegt wurden. Bislang gibt es aber keine ausreichend verlässlichen Messmöglichkeiten zur Mobilität in der Alltagswelt der Patienten. „Die gängigen Fitness-Armbänder und Uhren sind für medizinische Zwecke nicht genau genug“, betont Becker, der mit den anderen Teilnehmern des MOBILISE-D-Projekts mehr als ein Jahr lang verschiedene Sensoren und Algorithmen getestet hat. Daraus haben sie einen neuen Algorithmus für ein Messgerät entwickelt. Dieses wird an einem Gürtel und in Höhe des fünften Lendenwirbels am Rücken, nahe dem Körperschwerpunkt, getragen. Erprobung bei vier ausgewählten Erkrankungen Mit der neu entwickelten Technik können verlässlich und langfristig exakte Daten zur Mobilität und zu Bewegungsabläufen übermittelt werden. Um das für verschiedene große Krankheitsgruppen zu belegen, startete Mitte April die klinische Studie mit 2400 Patienten und 200 Wissenschaftlern an insgesamt 15 klinischen Zentren in ganz Europa. Die ausgewählten Patienten leiden an einem der vier Krankheitsbilder: Multiple Sklerose, der chronischen Lungenerkrankung COPD, Parkinson oder einer Hüftfraktur in Folge von Osteoporose. Zu letzter Gruppe gehören auch die 200 Patienten, die Becker und das Robert-Bosch-Krankenhaus in den kommenden zwei Jahren begleiten werden. In Abständen von sechs Monaten werden sie für jeweils eine Woche das Messgerät Tag und Nacht tragen. „So können wir nicht nur die Gehgeschwindigkeit, die zurückgelegte Strecke und mögliche Unsicherheiten im Gang der Patienten in ihrem Alltag messen, sondern auch gleich Informationen zur Schlafqualität sammeln“, erklärt der Studienleiter. Die gewonnenen Daten werden zusammengeführt, ausgewertet und verglichen – mit dem Fortschreiten der Krankheit und eventuellen Therapien und Medikamenten, die in dieser Zeit gemacht und eingenommen wurden. Wozu kann dieses Messverfahren nützlich sein? Stellt man damit beispielsweise bei Parkinson-Kranken eine Veränderung in der Mobilität fest, kommen andere Medikamente in Frage. Auch Folgen einer Gelenkoperation können so gemessen und bewertet werden. Vorausblickend können Mediziner mit dieser Messmethode das Risiko eines Herzinfarkts oder einer Verschlechterung des Lungenvolumens ermitteln und einige Erkrankungen frühzeitig erkennen. „Wir möchten zeigen, dass Mobilität eine normative und exakt feststellbare Größe ist, deren Messung in Zukunft wie Langzeit-EKGs, Blutdruckmessungen oder der Blutzuckermessung zur medizinischen Standard-Versorgung gehören sollte.“ Der Chefarzt am RBK geht davon aus, dass das in etwa drei bis vier Jahren der Fall sein wird.
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