Modifizierte Aminosäure stoppt Progression der Parkinson-Krankheit im Vorstadium3. September 2024 Strukturformel der Aminosäure Leucin. (Foto: © Zerbor – stock.adobe.com) Eine internationale Arbeitsgruppe hat zwei beeindruckende Patientenfälle publiziert: Die Therapie mit der modifizierten Aminosäure Acetyl-DL-Leucin konnte in beiden Fällen im Prodromal-Stadium der Parkinson-Krankheit die Progression unterbinden. Dies berichtet die Deutsche Gesellschaft für Neurologie (DGN). In der Fachzeitschrift „Nature Communications“ ist eine Arbeit von Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen aus Marburg, München, Groningen, Amsterdam und Chicago erschienen, die nach Überzeugung der DGN „auch international für großes Aufsehen“ sorgen wird. Beschrieben werden dort zwei Kasuistiken, in denen die modifizierte Aminosäure Acetyl-DL-Leucin erfolgreich das Auftreten einer manifesten Parkinson-Krankheit verhinderte.1 Wesentliche Krankheitsmarker gingen nach Gabe von Acetyl-DL-Leucin (ADLL) zurück. „Das ist so ungewöhnlich, das habe ich während meines ganzen bisherigen ärztlichen Berufs- und Forscherlebens noch nicht gesehen“, berichtet der Leiter der Studie, Prof. Wolfgang Oertel, Hertie Senior Forschungsprofessor am Universitätsklinikum Marburg. In der Studie wurden zwei Personen (eine weiblich, eine männlich) mit einer isolierter REM-Schlafverhaltensstörung (iRBD) 22 Monate lang mit 5 g ADLL pro Tag behandelt. Menschen mit iRBD haben ein Risiko von mehr als 85 Prozent (und damit ein 130-fach höheres Risiko), in den folgenden zehn bis 15 Jahren an der Parkinson-Krankheit oder einer Lewy-Körperchen-Demenz zu erkranken. Nur etwa 15 Prozent der von iRBD Betroffenen entwickeln diese neurodegenerativen Erkrankungen nicht. In der Wissenschaft gilt daher die iRBD als prodromales Zeichen der Parkinson-Krankheit. „Dass die beiden Betroffenen wahrscheinlich nicht zu den 15 Prozent der ‚Glücklichen‘ gehörten, die dieses Schicksal nicht ereilt hätte, wissen wir aus den Voruntersuchungen: Die Dopamin-Transporte-SPECT-Untersuchung zeigte bei beiden bereits eindeutig vor der Behandlung mit ADLL einen pathologischen Befund. Auch litten beide schon unter einer Riechstörung, einem weiteren Parkinson-Frühsymptom“, erläutert Prof. Lars Timmermann, Direktor der Neurologie an der Uniklinik Marburg und Ko-Autor der Studie. „Das wirklich Eindrucksvolle an den beiden Fallberichten ist, dass die neurodegenerativen Veränderungen hin zu einer klinisch manifesten Parkinson-Krankheit nicht nur verlangsamt werden konnten, sondern dass sich die Krankheitszeichen in der Bildgebung unter der Behandlung sogar zurückbildeten“, ergänzt Dr. Annette Janzen, Ko-Autorin und Oberärztin an der Marburger Klinik. Und Prof. Michael Strupp, Senior-Autor der Publikation, von der Klinik für Neurologie der LMU München betont: „Das leistet bisher noch kein einziger Therapieansatz. Und wir reden hier über eine einfache und gut verträgliche modifizierte Aminosäure. Seit geraumer Zeit weiß man, dass Acetyl-L-Leucin auch bei anderen neurodegenerativen Krankheiten wie z. B. der Niemann-Pick-Krankheit Typ C, einer Erkrankung des lysosomalen Systems, einen günstigen Effekt besitzt. Und diesen Befund konnten wir kürzlich in einer Phase-3 Studie bestätigen.“2 Folgende drei Kriterien wurden in der aktuellen Publikation, untersucht: der Schweregrad der REM-Schlafverhaltensstörung (RBD-SS-3), die Dopamin-Transporter-Einzelphotonen-Emissions-Computertomographie (DAT-SPECT als Maß für den Verlust der dopaminergen Fasern von der Substantia nigra zum Streifenkörper) und der metabolische Parkinson’s Disease-related-Pattern(PDRP)-z-Score in der 18F-Fluorodesoxyglucose-Positronen-Emissions-Tomographie (FDG-PET) als Maß für die Parkinson-typische pathologische Hirnaktivität. Bereits nach drei Wochen der Behandlung sank der RBD-SS-3-Wert bei beiden Studienteilnehmenden deutlich ab und blieb über die 18 Monate der ADLL-Behandlung reduziert. Bei der Patientin war die DAT-SPECT-Putaminal-Binding-Ratio (PBR) in den fünf Jahren vor der Behandlung von normal (1,88) auf pathologisch (1,22) gesunken und der FDG-PET-PDRP-z-Score von 1,72 auf einen krankhaften Wert von 3,28 gestiegen. Nach 22 Monaten ADLL-Behandlung verbesserte sich der DAT-SPECT-PBR auf 1,67 als Hinweis auf Erholung des dopaminergen Systems und der FDG-PET-PDRP-z-Score lag bei 3,18 als Zeichen der Stabilisierung der Hirnaktivität. Ähnliche Ergebnisse wurden bei dem zweiten Patienten beobachtet: Sein DAT-SPECT-PBR stieg von einem Vorbehandlungswert von 1,42 auf einen fast normalen Wert von 1,72 und der FDG-PET-PDRP-z-Score sank nach 18 Monaten ADLL-Behandlung von 1,02 auf 0,30 als Zeichen des Rückgangs der Parkinson-typischen pathologischen Hirnaktivität. Wie wirkt Acetyl-Leucin? Zu den Wirkmechanismen von Acetyl-DL-Leucin gehören Effekte auf das lysosomale System sowie auf die Zellatmung. Wie eine biochemische Arbeit zeigt, erhöht Acetyl-L-Leucin die Produktion von ATP.3 Störungen des lysosomalen Systems sind bei der Parkinson-Krankheit im Gehirn beschrieben und jüngste Ergebnisse der Ko-Autoren Dr. Fanni Geibl und Dr. Martin Henrich in einem Mausmodell des prodromalen Stadiums der Parkinson-Krankheit zeigen, dass im Frühstadium sowohl der Energiehaushalt als auch die lysosomale Funktion in den geschädigten dopaminergen Neuronen stark beeinträchtigt ist.4 Das ist nach Ansicht der DGN umso mehr ein Grund, Acetyl-DL-Leucin mit seinem dualen Wirkmechanismus bei Patienten mit iRBD einzusetzen. Chemisch liegt Acetyl-Leucin in zwei Konfigurationen vor: als Acetyl-D-Leucin und als Acetyl-L-Leucin. Die Mischung beider Formen wird als Acetyl-DL-Leucin (ADLL) bezeichnet. Und nur diese Mischung ADLL stand für den individuellen OFF-Label Einsatz bei den beschriebenen zwei Patienten mit iRBD als Medikament zur Verfügung. Aus der Grundlagenforschung an Tiermodellen gibt es aktuelle Hinweise, dass von dem Gemisch ADLL nur die L-Form, also Acetyl-L-Leucin, wirksam ist. Zukünftige Studien werden demnach vorzugsweise mit Acetyl-L-Leucin durchgeführt werden.2 Kontrollierte Studien sind in Planung „Wir sehen Hinweise dafür, dass Acetyl-DL-Leucin das Fortschreiten der Erkrankung verhindern kann. Die Parkinson-typischen Muster in der Bildgebung sind sogar reversibel – und es scheint: Je besser die Ausgangswerte oder je leichter ausgeprägt die Krankheitswerte zu Behandlungsbeginn, desto effektiver ist möglicherweise die Therapie. Wir müssen betonen, dass es sich bisher nur um zwei Patientenbeschreibungen handelt, mit allen Limitationen wie Nicht-Verblindung, fehlende Placebogruppe etc. Randomisierte Placebo-kontrollierte Langzeitstudien sind in Planung. Was uns optimistisch stimmt und besonders fasziniert, sind die Bildgebungsdaten, da die Verbesserung der Hirnpathologie nicht mit einem Placebo-Effekt erklärt werden kann“, erläutert Oertel. Bestätigen große klinische Studien die beschriebenen Beobachtungen, könnte dies einen Meilenstein in der Medizingeschichte darstellen, erklärte die DGN. „Bis dahin ist es allerdings noch ein weiter Weg und wir müssen bei aller Euphorie besonnen bleiben und möglichst schnell kontrollierte Studien auflegen, die evidenzgebend sind“, mahnt Prof.Peter Berlit, Generalsekretär der Deutschen Gesellschaft für Neurologie. Das Projekt wurde vom ParkinsonFonds Deutschland, der Stichting ParkinsonFonds, Niederlande, sowie über die Hertie-Senior-Forschungsprofessur von Prof. Oertel gefördert.
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