Myopie-Entwicklung: Differenziertere Sichtweise erforderlich30. Oktober 2024 Wolf Lagrèze berichtete über aktuelle Erkenntnisse zu Entwicklungen der Myopieprävalenz und Strategien, kindliche Kurzsichtigkeit zu stoppen. Foto: Kaulard/Biermann Medizin Ist die Welt mit einer Myopie-Pandemie konfrontiert? Und welches ist das Heilmittel der Wahl? Diesen Fragen ging Prof. Wolf Lagrèze (Freiburg) während des 122. DOG-Kongresses nach und riet zu einer differenzierteren Sichtweise. Als „unglücklich“ bezeichnete Lagrèze die wiederholte Zitation einer Arbeit aus dem Jahr 20161, die eine Vorausberechnung bis in das Jahr 2050 präsentiert und prognostiziert habe, dass bis dahin zehn Prozent der Weltbevölkerung eine hohe Myopie jenseits von -6 dpt hätten und damit ein erhebliches Risiko für gravierende Augenerkrankungen trügen, etwa für eine spezielle, früh auftretenden Form der Makuladegeneration oder für Netzhautablösungen. Bei hohen Myopien sei das Auge nicht mehr 23, sondern bis zu 30 Millimeter lang, „das stresst die Netzhaut“, verdeutlichte er. Niemand aber könne die Myopie-Entwicklung der Weltbevölkerung für 30 oder mehr Jahre vorhersagen, kritisierte Lagrèze, dass auf die erwähnte Arbeit nicht nur oft in der Presse, sondern auch in vielen wissenschaftlichen Publikationen Bezug genommen werde.Er räumte ein, es sei unbestritten, dass seit dem Zweiten Weltkrieg in den inzwischen hoch entwickelten südostasiatischen Metropolen die Kurzsichtigkeit fast jeden jungen Menschen betreffe und Prävalenzen von 80 bis 90 Prozent dort die Regel seien. In anderen Regionen der Welt habe man eine derartige Zunahme jedoch nicht gefunden … und in Europa sei die Myopie-Rate über die letzten drei Dekaden konstant geblieben. Ein Viertel bis ein Drittel der Jugendlichen und jüngeren Generation seien betroffen, präzisierte Lagrèze, Leitender Arzt der Sektion Neuroophthalmologie, Kinderophthalmologie und Schielbehandlung an der Universitätsaugenklinik Freiburg. Die Hauptfaktoren der Myopisierung seien kausal evaluiert: Abstand und Lichtmenge. In den Niederlanden habe man daher die 20-20-2-Regel etabliert: alle 20 Minuten 20 Sekunden lang in die Ferne sehen und zwei Stunden am Tag ins Freie gehen. Smartphones per se machten nicht kurzsichtig, sondern die Nutzungsdauer. Bei langem Lesen von Kleingedrucktem entstünde derselbe Effekt. Die Besorgnis über die Myopie und ihre potenziellen Komplikationen sei zwar nach wie vor berechtigt, doch eine differenziertere Sichtweise sei erforderlich, meinte er. Regionale Unterschiede der Myopieprävalenz, die noch unerforschten Auswirkungen der allgegenwärtigen Smartphone-Nutzung und die unterschiedliche Wirksamkeit von niedrig dosiertem Atropin in westlichen Populationen erfordern seiner Einschätzung nach „eine kritische Neubewertung“. Myopiekontrolle durch Atropin Bei einer aufmerksamen Betrachtung der Literatur zur Myopiekontrolle durch Atropin sei festzustellen, dass die berichteten Effektstärken für niedrig dosiertes Atropin von Studie zu Studie abnähmen, verwies Lagrèze auf den „Decline-Effekt“, der oftmals bei wachsender Studienanzahl zu einer Fragestellung zu beobachten sei.Den Grundstein für die inzwischen weltweite Anwendung von niedrig dosierten Atropin-Augentropfen bei Kindern habe der Bericht über die ATOM-2-Studie2 gelegt, erinnerte er.Die irische MOSAIC-Studie, bei der eine Formulierung der Firma Nevakar verwendet worden sei, habe nun jedoch ergeben, dass eine zweijährige topische Anwendung von 0,01-prozentigem Atropin das Fortschreiten der Myopie im Vergleich zu Placebo nur um 0,1dpt verringerte3. In der amerikanisch-europäischen CHAMP-Studie, für die man dieselbe Formulierung genutzt habe, sei Placebo mit 0,01%- und 0,02%-Atropin verglichen worden. Nach dreijähriger Therapie sei die Progression in der 0,01-Prozent-Gruppe um 0,25 dpt geringer gewesen als in der Placebogruppe4. Obwohl dieser Effekt statistisch signifikant gewesen sei, erscheine es übertrieben, ihn als klinisch bedeutsam anzusehen. „Das ist nicht der Burner“, meinte Lagrèze ebenso salopp wie deutlich.Noch erstaunlicher sei vielleicht, dass die höchste Dosis von 0,02%-Atropin eine schwächere Wirkung gehabt hätte als 0,01%-Atropin. Bis heute gebe es noch keine Erklärung für diese inverse Dosis-Wirkungs-Beziehung. Abzuwarten bleibe, ob die derzeitigen Behandlungsstrategien angesichts dieser eher ernüchternden Ergebnisse überdauern werden, zeigte er sich skeptisch. Empfehlungen, die sich vor allem auf frühe Daten aus asiatischen Populationen stützen, müssten möglicherweise überdacht werden. Die Zukunft könnte einen stärker individualisierten Ansatz bieten, der die ethnische Zugehörigkeit berücksichtige.Die deutsche AIM-Studie*, deren Rekrutierung im Oktober 2024 abgeschlossen werden sollte (Stand 10.10.2024, Anm. d. Red.), erscheine vor diesem Hintergrund umso wichtiger, meinte Lagrèze. Sie verwende eine andere Formulierung, die von einem deutschen Vertragshersteller bereitgestellt werde, und vergleiche die Sicherheit und Wirksamkeit von 0,02-prozentigem Atropin mit Placebo. Multifokale Optiken und Rotlichttherapie Nichtpharmakologische Ansätze wie multifokale Optiken – Multisegmentbrillengläser, spezielle Kontaktlinsen – seien weit verbreitet, betonte Lagrèze. Diese müssten aber hinsichtlich ihrer langfristigen Wirksamkeit noch genauer untersucht werden. Der Großteil der vielversprechenden Nachweise stamme aus stark Hersteller-bezogenen Studien. Neuartige Interventionen wie die wiederholte Rotlichttherapie mit geringer Intensität seien zwar interessant, meinte Lagrèze, erforderten jedoch eine kritische Bewertung mit Blick auf ihre Sicherheit und Reproduzierbarkeit. Davon zu unterscheiden sei, dass Sonnenlicht einen wirksamen präventiven Faktor darstelle und vor allem kostenlos sei. In guten Studien aus Asien sei belegt worden, dass Sonnenlichtexposition das Risiko für Kurzsichtigkeit senke und so hätten als Reaktion darauf die dortigen Schulsysteme entsprechende Präventionsprogramme implementiert.Die Behandlung einer so großen Bevölkerungsgruppe wie die der von Myopie Betroffenen könne eine erhebliche Belastung für die Gesundheitssysteme darstellen, hieß es anschließend. Klinische Forscher seien daher gefordert, die entsprechenden Nachweise zu erbringen, damit die Entscheidungsträger beurteilen könnten, ob solche Therapien kosteneffektiv und sicher seien. Mit Blick auf die AIM-Studie meinte Lagrèze: „Ich bin gespannt, was in zwei Jahren zu berichten sein wird.“ (dk)*Anm. d. Red.: AIM = Kurztitel für Low-dose AtropIne for Myopia control in childrenLink zur Studien-Website: https://www.uniklinik-freiburg.de/aim-studie.html Literatur Holden B. Ophthalmology 2016;123:1036-1046. Chia A et al. Ophthalmology 2012;119:347. Loughman J et al. Acta Ophthalmol 2024;102:245-256. Zadnik K et al. JAMA Ophthalmol 2023;141:990-999.
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