Neue ESO/EANS-Leitlinie zum Management der intrazerebralen Blutung (ICB)30. Juli 2025 Intrazerebrale Blutungen erfodern schnelles Handeln. (Foto: © NeuroGraphix Studio – stock.adobe.com; generiert mit KI) Rund 3,4 Millionen Menschen weltweit sind jährlich von einer intrazerebralen Blutung (ICB) betroffen, die Mortalitätsrate ist hoch. Auf dem ESOC in Helsinki wurden nun die neuen ESO/EANS-Leitlinien zum Management der ICB vorgestellt. Seitdem 2014 die letzte Leitlinie der Europäischen Schlaganfallorganisation (ESO) zur Behandlung spontaner ICB veröffentlicht wurde, hat sich die Evidenzlage durch zahlreiche randomisierte kontrollierte Studien (RCTs) und hochwertige Beobachtungsstudien erheblich erweitert. Eine Aktualisierung der Leitlinien war dringend erforderlich. Prof. Thorsten Steiner, Frankfurt (Main), hat federführend daran mitgearbeitet und erläutert im Interview die wichtigsten Neuerungen. Nach Einschätzung der DGNI sind die neuen ESO/EANS-Leitlinien zur Intrazerebralen Blutung eine „sehr gelungene Bündelung der aktuellsten Evidenz zu einem Thema, das für uns NeuroIntensivmediziner extrem wichtig ist“. Was ist der Hintergrund, dass eine Aktualisierung der Leitlinien dringend erforderlich wurde? Prof. Steiner: Zunächst einmal freue ich mich über diese Einschätzung. Eine neue Leitlinie war aus folgenden Gründen erforderlich: Die letzte Leitlinie der ESO zu intrazerebralen Blutungen (ICB) wurde 2014 veröffentlicht. In den Jahren danach wurden vergleichsweise wenige große randomisierte Studien (RCTs) durchgeführt. Diese Studien zeigten zwar einen Einfluss auf Surrogatparameter, wie z.B. die Reduktion des Hämatom-Wachstums. Die Interventionen hatten aber keinen positiven Einfluss auf das klinisch- funktionelle Ergebnis (Outcome). Erst in den vergangenen zwei Jahren sind große RCTs veröffentlicht worden, die einen Benefit einer Intervention zeigten, wie (INTERACT-4 (Blutdruck), INTERACT-3 (Care Bundle), ENRICH (minimal invasive Neurochirurgie), ANEXA-I (Andexanet Alfa), SWITCH (dekompressive Hemikraniektomie). Warum sind so viele Therapiestudien zur Behandlung von Gehirnblutungen negativ ? Der springende Punkt ist die Assoziation von Hämatomvolumen, Zeitpunkt der Intervention und klinischer Prognose. Wie ist das zu verstehen?Die Prognose quo ad vitam• an Tag 30 beträgt die Sterblichkeit 20 Prozent für Volumina bis 30 ml ,• 30 – 55 Prozent für Volumina zwischen 30 und 60 ml und• 90 Prozent für Volumina größer als 60 ml. Das prognostisch entscheidende Hämatomvolumen ist abhängig von der Größe der Nachblutung oder dem Hämatom-Wachstum – oft auch als „Haematoma Expansion“ bezeichnet. Der Großteil des Hämatom-Wachstums spielt sich bei den meisten Erwachsenen mit ICB in den ersten drei Stunden nach Beginn der ICB ab. Außerdem ist bekannt, dass kleine Volumina eine kleinere Wahrscheinlichkeit einer Nachblutung haben als große. Daher ist das vordringliche therapeutische Target der Akutphase der ICB die Reduktion des Hämatomwachstums. Die Hypothese lautet: Reduktion des Hämatomwachstums führt zu Besserung der Prognose. Die Gründe für das Scheitern vieler RCTs sind, dass die Intervention häufig zu spät kam – nach drei Stunden. Zum anderen waren die Blutungen zu klein oder zu groß. Die positiven RCTs der Jahre 2024/2025 zeichnen sich durch ein kürzeres Zeitintervall für die Intervention (z.B. INTERACT-4 (Blutdrucksenkung <2 Stunden) und eine neue Art der Intervention (z.B. INTERACT-3 (Care Bundle) aus. Bezogen auf neurochirurgische Techniken ergeben sich weitere Aspekte bzgl. Größe und Lokalisation der Blutung, angewandter Technik und Zeitintervall. Die Literaturrecherche für die Leitlinie umfasst 115.647 identifizierte Artikel, 208 Studien wurden in die Bewertung einbezogen. Welche Ergebnisse sind besonders wichtig? Steiner: Die Leitlinie umfasst die Schwerpunkt-Themen allgemeines Management, Blutdruckmanagement, thermostatische Therapien, neurochirurgische Eingriffe, Management von Komplikationen und Sekundärprävention. Besonders wichtig sind die Ergebnisse in folgenden Bereichen:• Blutdrucksenkung-Management• Hämostatische Therapien• Neurochirurgische Interventionen• Supportive Maßnahmen, insbesondere Care Bundle Bezüglich des Blutdruckmanagements besteht Einigkeit, dass der Blutdruck gesenkt werden muss. Das besonders wichtige Ergebnis ist die Benennung eines Schwellenwerts von systolisch 140 mmHg, unter den der Blutdruck gesenkt werden sollte. Dies ist anders als in den US-amerikanischen und den kanadische Leitlinien, die mit einem „Range“ arbeiten, der zwischen 130 und 150 mmHg liegt. Bei hämostatischen Therapien unterscheiden wir drei Szenarien:• Blutungen ohne und mit Assoziation mit oralen Antikoagulantien (OAC)• Blutungen in Assoziation unter Einnahme von Thrombozytenaggregationshemmern• Bei den ICB mit Assoziation mit OAC, unterscheiden wir zwischen Vitamin-K-Antagonisten, Faktor-II-Hemmern (also Dabigatran) und Faktor-X-Hemmern. In den entsprechenden Situationen können rFVIIa, Tranexamsäure, Prothrombin-Komplex-Konzentrat (PPSB) und Andexanet Alfa zu einer Reduktion des Hämatom-Wachstums führen. Für keines dieser Medikamente konnte allerdings ein positiver Einfluss auf das funktionelle Outcome gezeigt werden und durch einige wird das thrombembolische Risiko zum Teil signifikant erhöht. Das ist der Grund, weshalb zum Thema hämostatische Therapien ausschließlich Experten-Empfehlungen gegeben werden. Bei den Neurochirurgischen Eingriffen zeigten ENRICH (minimal invasive Chirurgie) und SWITCH (dekompressive Hemikraniektomie) einen Vorteil zugunsten des Eingriffs. Das wichtige Ergebnis ist meines Erachtens die Erkenntnis, dass bestimmte Aspekte offenbar eine Rolle beim Erfolg zu spielen scheinen. Dies sind der Zeitpunkt des Eingriffs, die neurochirurgische Technik, die Größe und Lokalisation der Blutung. Bei den supportiven Maßnahmen rückt die Applikation eines Maßnahmenbündels mehr und mehr in den Vordergrund. Die Anwendung von Care Bundles hat dazu geführt, dass insbesondere in den USA der Begriff „CODE-ICH“ eingeführt wurde. Für welche Interventionen konnten starke Empfehlungen ausgesprochen werden? Steiner: Es ist wichtig zu verstehen, was starke oder schwache Empfehlungen im Rahmen des GRADE-Systems bedeuten. Starke Empfehlungen sprechen wir aus, wenn bei einer Intervention die positiven Effekte im Vergleich zu den potenziell negativen Effekten klar überwiegen – und es unwahrscheinlich ist, dass zukünftige Studien daran etwas ändern würden.Starke Empfehlungen konnten ausgesprochen werden für:• Die Behandlung von Patient:innen mit ICB in spezialisierten Stroke Units, da hierdurch das Risiko von Tod oder Abhängigkeit signifikant gesenkt wird.• Die Senkung des Blutdrucks im Rahmen der Sekundärprävention. Es wurde klar empfohlen, systolische Blutdruckwerte unter 140 mmHg zu halten. Aktuell in der Diskussion – mit schwächerer Evidenz oder Expertenkonsens:• Die akute Blutdrucksenkung in den ersten Stunden nach ICB: Hier besteht schwache Evidenz für einen Nutzen bei Patienten mit kleineren Hämatomen, wenn der systolische Blutdruck innerhalb von 6 Stunden unter 140 mmHg gesenkt wird. Ein zu starker Blutdruckabfall (>70 mmHg vom Ausgangswert) sollte allerdings vermieden werden.• Hämostatische Therapien wie rFVIIa, Tranexamsäure, Andexanet alfa oder PPSB zeigen zwar eine Reduktion des Hämatomwachstums, konnten aber keinen eindeutigen positiven Effekt auf das funktionelle Outcome belegen. Daher wurden hierzu nur Expertenempfehlungen ausgesprochen.• Neurochirurgische Interventionen (z. B. minimal invasive Hämatomevakuation, Dekompression) zeigen erste Hinweise auf einen Vorteil, insbesondere wenn sie frühzeitig und patientenindividuell angewendet werden. Auch angesichts der erzielten Fortschritte besteht weiterhin ein großer Bedarf an hochwertigen Studien. Wie kann es noch besser gelingen, klinische Forschung konsequent in die Versorgung von ICB-Patienten zu integrieren? Steiner: Trotz wichtiger Fortschritte besteht weiterhin ein erheblicher Forschungsbedarf. Besonders in folgenden Bereichen sind hochwertige Studien notwendig:• Validierung des Prinzips der Hämatomreduktion als therapeutisches Ziel• Wirksamkeit und Sicherheit hämostatischer Therapien in verschiedenen ICB-Konstellationen• Effektivität der akuten Blutdrucksenkung hinsichtlich funktioneller Outcomes• Verifikation neurochirurgischer Eingriffe in Abhängigkeit von Zeitfenster, Lokalisation und Technik• Einsatz und Aussagekraft prognostischer Scores, insbesondere über die Akutphase hinaus• Implementierung und Wirkung strukturierter Versorgungskonzepte („Care Bundles“), wie sie z. B. im „CODE-ICH“-Ansatz in den USA Anwendung finden. Wie kann Forschung besser integriert werden?Ein zentraler Weg ist die konsequente Verzahnung klinischer Versorgung mit Forschung („Integrierte Forschung“). Hierzu gehören internationale Plattformen wie Global-ACT, welche Studien multizentrisch in den klinischen Alltag einbinden. Dabei gilt weiterhin das Prinzip „Time is Brain“ – Forschung muss früh ansetzen, idealerweise schon in der prähospitalen Phase. Dies erfordert Strukturen, in denen Patient:innen möglichst frühzeitig in Studien eingebunden werden können, ohne Verzögerung der Versorgung.
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