Neue S3-Leitlinie: Evidenzbasierte Hilfe bei cannabisbezogenen Störungen

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Cannabisbezogene Störungen – darunter Missbrauch, Abhängigkeit und Entzugssyndrome – treten häufiger auf als gemeinhin vermutet wird. Eine neue S3-Leitlinie bündelt nun erstmals evidenzbasierte Empfehlungen für Diagnostik, Therapie und Versorgung von Jugendlichen und Erwachsenen mit cannabisbezogenen Störungen.

Cannabis ist nach Alkohol und Tabak die weltweit am häufigsten konsumierte psychoaktive Substanz. In der deutschen ambulanten und stationären Suchthilfe ist Cannabis, nach Alkohol, der Hauptanlass für eine suchtspezifische Behandlung. Schätzungen zufolge erfüllen rund 1,5 % der Erwachsenen und etwa 2,5 % der 12- bis 18-Jährigen in Deutschland die diagnostischen Kriterien einer cannabisbezogenen Störung, das heißt eines Missbrauchs oder einer Abhängigkeit. In der Gruppe der regelmäßig Konsumierenden entwickeln 33 % eine Abhängigkeit.

Die neu veröffentlichte S3-Leitlinie „Behandlung Cannabisbezogener Störungen“ bietet evidenzbasierte Handlungsempfehlungen für alle Berufsgruppen, die mit der Behandlung von Patientinnen und Patienten mit cannabisbezogenen Störungen befasst sind. Sie wurde federführend von der Deutschen Gesellschaft für Suchtforschung und Suchttherapie e. V. (DG-Sucht), der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie e. V. (DGKJP) sowie der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde e. V. (DGPPN) erarbeitet. Insgesamt waren 20 Fachgesellschaften, Berufs-, Betroffenen- und Angehörigenverbände beteiligt.

Versorgungsengpässe schließen – Chronifizierung vorbeugen

„Für die qualifizierte Entzugsbehandlung und Rehabilitation fehlt es in Deutschland an Behandlungsplätzen. Besonders massiv ist die Versorgunglücke für Kinder und Jugendliche, die an problematischem Cannabiskonsum oder Abhängigkeit leiden“, erklärt der Koordinator der Leitlinie, Kinder- und Jugendpsychiater Prof. Rainer Thomasius. „Ohne gezielte fachliche Unterstützung kann sich ein problematischer Konsum rasch chronifizieren – mit gravierenden Folgen wie schulischem Leistungsabfall, sozialem Rückzug und psychischen Belastungen.“

Unterstützung durch Psychotherapie und digitale Angebote

„Mit der neuen Leitlinie liegen erstmals klar definierte Empfehlungen für standardisierte psychotherapeutische Verfahren vor. Das schafft Sicherheit und Orientierung für Behandelnde, Betroffene und Angehörige“, betont die Präsidentin der DG-Sucht und Koordinatorin der Leitlinie, Prof. Eva Hoch. Zur Reduktion des Konsums empfiehlt die Leitlinie für Erwachsene motivierende Interventionen, kognitive Verhaltenstherapie sowie zusätzlich abstinenzorientiertes Kontingenzmanagement. Für Jugendliche werden ergänzend familienorientierte Therapien, soziale und lebensweltbezogene Interventionen sowie digitale Beratungs- und Therapieangebote empfohlen.

Wenn Cannabis körperlich krank macht

Erstmals berücksichtigt eine Leitlinie auch das schwerwiegende Cannabis-Hyperemesis-Syndrom (CHS) – wiederkehrende Episoden von schwerer Übelkeit, Erbrechen und Bauchschmerzen aufgrund einer chronischen Cannabis-Intoxikation. Die Leitlinie empfiehlt hier eine Abstinenzbehandlung sowie die Aufklärung von Betroffenen und Behandelnden über das CHS. Damit rückt die Leitlinie neben den psychischen auch die physischen Risiken des Cannabiskonsums in den Fokus.

Individualisierte Behandlung statt „one size fits all“

Die S3-Leitlinie „Behandlung Cannabisbezogener Störungen“ gibt zudem explizite Empfehlungen für den Umgang mit komorbiden psychischen Erkrankungen wie Depressionen, Angststörungen oder Psychosen. Auch besonders gefährdete Gruppen werden gezielt adressiert, darunter Jugendliche, Menschen mit frühem Konsumbeginn, Personen mit psychischer Vorbelastung sowie sozial stark belastete Gruppen. Damit ermöglicht die Leitlinie eine individualisierte Risikoeinschätzung und passgenaue Versorgung.

Pharmakologische Möglichkeiten und Grenzen

„Es gibt weltweit immer noch keine Medikamente, die für die Behandlung von cannabisbezogenen Störungen zugelassen sind“, erklärt Prof. Ursula Havemann-Reinecke von der mitherausgebenden Fachgesellschaft DGPPN. „Pharmakotherapie kann jedoch symptomorientiert und ‚off label‘ eingesetzt werden, beispielsweise zur Behandlung von Entzugssymptomen.“ Die Leitlinie beschreibt entsprechende Optionen.

Stigmata abbauen – Versorgung stärken

Ein entscheidender Aspekt für eine erfolgreiche Behandlung ist die Entstigmatisierung. Viele Betroffene schämen sich, professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen, und zögern deshalb zu lange. Die Leitlinie betont: Cannabisbezogene Störungen sind ernstzunehmende Erkrankungen – keine moralische Verfehlung und kein Ausdruck persönlichen Versagens. Gleichzeitig fordert sie einen deutlichen Ausbau der Versorgungsstrukturen, damit auch langfristig niedrigschwellige und systematische Behandlungsmöglichkeiten für Betroffene zur Verfügung stehen.

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