Neue Übersichtsarbeit zweifelt Wirkung vieler Antidepressiva gegen Schmerzen an10. Februar 2023 Abbildung: ©photo_mts/stock.adobe.com Einige Schmerzzustände lassen sich wirksam mit bestimmten Antidepressiva behandeln. Für einen Großteil der Antidepressiva kann jedoch kein schmerzlindernder Effekt nachgewiesen werden oder es mangelt an Evidenz für eine aussagekräftige Bewertung. Zu diesem Ergebnis gelangt ein aktueller Umbrella-Review in der Fachzeitschrift „The BMJ“. Der Einsatz von Antidepressiva hat sich in den OECD-Ländern von 2000 bis 2015 verdoppelt, und es wird vermutet, dass ihr Off-Label-Einsatz zur Behandlung von häufigen Schmerzzuständen wie Fibromyalgie, anhaltenden Kopfschmerzen und Osteoarthritis zu diesem Anstieg beiträgt. Eine Studie aus dem Jahr 2019 zeigte für Kanada, die USA, das Vereinigte Königreich und Taiwan, dass chronische Schmerzen – noch vor depressiven Verstimmungen – die Hauptindikation zur Verschreibung von Antidepressiva bei älteren Menschen waren. Studie zu acht Antidepressiva-Klassen bei 22 Schmerzzuständen Nun hat ein Forscherteam aus Australien, Großbritannien und Dänemark unter der Leitung von Giovanni Ferreira von der Universität Sydney (Australien) einen Überblick über die Wirksamkeit, Sicherheit und Verträglichkeit von Antidepressiva bei Schmerzen je nach Erkrankung erstellt. Dazu fassten sie die Ergebnisse von 26 systematischen Reviews (156 Einzelstudien und mehr als 25.000 Teilnehmerinnen und Teilnehmer), die zwischen 2012 und 2022 veröffentlicht wurden, zusammen. In den jeweiligen Reviews wurden acht Antidepressiva-Klassen mit Placebos für 22 beliebige Schmerzzustände bei Erwachsenen verglichen (insgesamt 42 verschiedene Vergleiche von Antidepressiva mit Placebo). Die Studienautoren weisen darauf hin, dass bei fast der Hälfte (45 %) der Studien in diesen Übersichten Verbindungen zur Industrie bestanden hätten. Anhand der Daten aus den einzelnen Übersichten schätzten die Forschenden die relativen Schmerzrisiken oder die durchschnittlichen Schmerzunterschiede zwischen den Gruppen auf einer Skala von 0 bis 100 Punkten, wobei sie die Dosis, die Behandlungsdauer sowie die Anzahl der Studien und Teilnehmenden berücksichtigten. Außerdem bewerteten sie die Sicherheit und Verträglichkeit (Abbrüche aufgrund von unerwünschten Ereignissen), die Zuverlässigkeit der Evidenz und das Risiko einer Verzerrung. Die Ergebnisse der einzelnen Vergleiche stuften sie dann als wirksam, nicht wirksam oder nicht schlüssig ein. Hinweise auf positive Wirkung von SNRI Die Ergebnisse des Umbrella-Reviews sind ernüchternd: Keine Übersichtsarbeit lieferte mit hoher Sicherheit Belege für die Wirksamkeit von Antidepressiva gegen Schmerzen bei irgendeiner Erkrankung. Neun Übersichten lieferten Hinweise darauf, dass einige Antidepressiva im Vergleich zu Placebo bei neun Erkrankungen in 11 verschiedenen Vergleichen wirksam waren. Als wirksamste Klasse präsentierten sich die Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer (SNRI). Für diese wurde mit mäßiger Sicherheit eine schmerzlindernde Wirkung bei Rückenschmerzen (durchschnittlich 5,3 Punkte weniger auf der Schmerzskala als Placebo), postoperativen Schmerzen, Fibromyalgie und neuropathischen Schmerzen festgestellt. Keiner dieser Effekte überschritt im Mittel die gemeinhin als klinisch bedeutsam angesehene Grenze von zehn Punkten. Die Studienautoren weisen jedoch selbst darauf hin, dass sie in ihrer Untersuchung absichtlich auf eine solche Grenze verzichten, da sie willkürlich sei und möglicherweise nicht die Ansichten der Patienten darüber widerspiegele, ob eine Wirkung von Bedeutung ist. Mit geringerer Sicherheit konnte für SNRI auch eine gewisse Wirkung bei Schmerzen im Zusammenhang mit einer Brustkrebsbehandlung, Depressionen, Kniearthrose und Schmerzen im Zusammenhang mit anderen Grunderkrankungen gezeigt werden. Ebenfalls Hinweise mit geringer Sicherheit fanden Ferreira und Kollegen für die Wirksamkeit von selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmern (SSRI) bei Depressionen und Schmerzen im Zusammenhang mit anderen Erkrankungen sowie von trizyklischen Antidepressiva (TCA) bei Reizdarmsyndrom, neuropathischen Schmerzen und chronischen Kopfschmerzen vom Spannungstyp. Großteil der Vergleiche mit unschlüssiger Evidenz Bei den anderen 31 Vergleichen konnte für die Antidepressiva entweder keine Wirksamkeit gezeigt werden (fünf Vergleiche) oder die Evidenz war nicht schlüssig (26 Vergleiche). Eine Übersichtsarbeit lieferte mit mäßiger Sicherheit Belege dafür, dass TCAs bei funktioneller Dyspepsie nicht wirksam sind. Die Sicherheit der Belege für alle anderen Arbeiten war gering. SSRIs waren nicht wirksam bei Rückenschmerzen, Fibromyalgie, funktioneller Dyspepsie, und nichtkardialen Brustschmerzen. Die meisten Daten zur Sicherheit und Verträglichkeit waren nicht eindeutig, was den Autoren zufolge darauf hindeutet, dass die Sicherheit von Antidepressiva bei verschiedenen Erkrankungen noch ungewiss ist. Antidepressiva differenziert betrachten und einsetzen In einer zugehörigen Mitteilung vom „BMJ“ wird das Studiendesign gelobt: „Es handelte sich um eine gut konzipierte Übersichtsarbeit, die auf einer gründlichen Literaturrecherche beruhte, und die Forschenden haben Maßnahmen ergriffen, um die Auswirkungen von Unterschieden im Studiendesign und in der Qualität, von Ungenauigkeiten und Publikationsverzerrungen zu minimieren.“ Die Studiengruppe um Ferreira räumt jedoch selbst ein, dass die meisten Vergleiche nur eine begrenzte Anzahl von Studien umfassten und dass die Ergebnisse möglicherweise nicht für Antidepressiva gelten, die für Symptome wie Müdigkeit, Schlafstörungen oder Depressionen im Zusammenhang mit der Schmerzsymptomatik verschrieben werden. Bei der Interpretation der Ergebnisse sei auch deshalb Vorsicht geboten, weil 45 Prozent der Studien, die als Grundlage für die Untersuchung dienten, Verbindungen zur Industrie hatten. „Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass bei der Verschreibung von Antidepressiva zur Schmerzbehandlung ein differenzierterer Ansatz erforderlich ist“, so das Fazit von Ferreira und Kollegen. Die Autoren eines Leitartikels zur Studie, Cathy Stannard und Colin Wilkinson, gehen auf Basis der Studienergebnisse davon aus, „dass die Behandlung mit Antidepressiva für die meisten Erwachsenen, die mit chronischen Schmerzen leben, enttäuschend sein wird“. Anstatt Medikamente zu verschreiben, von denen einige Menschen möglicherweise in geringem Maße profitieren könnten, für die es aber insgesamt keine ausreichend belegte Wirksamkeit gebe, wünschen sie sich von Klinikern den Einsatz anderer, weniger potenziell schädlicher Optionen. Als Beispiele nennen sie Bewegung und Unterstützung bei Mobilität und gegen soziale Isolation, die Menschen helfen könnten, gut mit Schmerzen zu leben. „Für Menschen mit Schmerzen sind mitfühlende und beständige Beziehungen zu Ärzten nach wie vor die Grundlage einer erfolgreichen Behandlung“, fügen sie hinzu. Außerdem mahnen sie an, die Sichtweise der Schmerzpatienten nicht zu übersehen. An den Studien müssten – anders als in der vorliegenden Studie – auch Schmerzpatienten beteiligt werden, um sicherzustellen, dass die Schmerzforschung für die Betroffenen von Bedeutung ist und ihnen und ihren Ärztinnen und Ärzten hilft, gemeinsam bessere Entscheidungen über Behandlungen zu treffen, so die Schlussfolgerung von Stannard und Wilkinson. (ah)
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