Neuronale Plastizität: Strukturelle Veränderungen der Sehrinde erwachsener Mäuse wie bei Jungtieren13. April 2021 Prof. Siegrid Löwel. Foto: Anne Günther/Uni Jena Das Verständnis der zellulären und molekularen Mechanismen, welche der „Plastizität“ des Gehirns zugrunde liegen, ist entscheidend für die Erklärung vieler Krankheiten. Die Plastizität sorgt dafür, dass das Gehirn lernen, sich entwickeln und umorganisieren kann. Neurowissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern der Universität und Universitätsmedizin Göttingen (UMG) ist es nun gelungen, Synapsen in wachen, erwachsenen Mäusen wiederholt abzubilden. Die Forscher entdeckten so bei diesen erwachsenen Mäusen erstmals, dass Neuronen im primären visuellen Kortex mit einer erhöhten Anzahl „stiller Synapsen“, denen ein bestimmtes Protein (PSD-95) fehlt, strukturelle Veränderungen aufweisen, die bisher nur bei jungen Mäusen beobachtet wurden. Die Ergebnisse dieser Studie des Sonderforschungsbereiches 889 „Zelluläre Mechanismen sensorischer Verarbeitung“ sind in der Fachzeitschrift „PNAS“ erschienen. Es ist bekannt, dass es während der frühen Gehirnentwicklung kritische Phasen gibt, in denen das Gehirn besonders plastisch ist und individuelle Erfahrungen dazu führen, dass neuronale Schaltkreise neu organisiert und angepasst werden. In sich entwickelnden Gehirnen sind stille Synapsen häufig und sie helfen, die Verbindungen zwischen den Hauptneuronen funktionell zu optimieren. Die Forschungsteams von Prof. Siegrid Löwel (Universität Göttingen) und Prof. Oliver Schlüter (UMG) hatten bereits herausgefunden, dass die Reifung stiller Synapsen (d. h. neu gebildeter Synapsen, die inaktiviert sind) das postsynaptische Dichteprotein-95 (PSD-95) benötigt und frühe kritische Perioden schließt. Die spezifischen Prozesse, die bestimmen, ob synaptische Verbindungen erfahrungsabhängig erhalten oder abgebaut werden, waren jedoch weitgehend unbekannt. Narkose kann neuronale Plastizität beeinflussenUm dies zu untersuchen, bildeten die Teams Neuronen aus der Sehrinde der Maus vor und nach spezifischer Reizung eines Auges mit einem Zwei-Photonen-Mikroskop ab. Erstautor Rashad Yusifov von der Universität Göttingen erklärt: „Frühere Studien haben in der Regel anästhesierte Mäuse verwendet, aber wir wissen jetzt, dass die Narkose selbst die neuronale Plastizität beeinflussen kann, weshalb wir die aktuelle Studie an wachen Tieren durchgeführt haben. Diese anspruchsvolle Technik, mit der wiederholt sehr kleine Strukturen, etwa ein Tausendstel eines Millimeters, abgebildet werden können, ist nur in wenigen Labors weltweit möglich. Es können damit dendritische Dornen – Zellfortsätze von Nervenzellen, die Reize aufnehmen können – beobachtet werden.“ Neuronen mit “jugendlicher Fähigkeit”Die Forscherinnen und Forscher entdeckten, dass Neuronen im Gehirn erwachsener Tiere, denen PSD-95 fehlt, einen verstärkten erfahrungsabhängigen Dornenabbau aufweisen. Dieser Effekt war bisher nur bei jungen Tieren beobachtet worden. Aufbauend auf ihren früheren Entdeckungen zeigt diese Teamarbeit, dass Neuronen ohne PSD-95 sowohl funktionelle als auch strukturelle Merkmale der Plastizität aufweisen, die mit einer kritischen Periode verbunden sind. Das bedeutet, dass diese Neuronen eine „jugendliche Fähigkeit“ haben, die Nervenzellverschaltungen, also Verbindungen zwischen Nervenzellen bis ins Erwachsenenalter umzustrukturieren. Seniorautorin Löwel von der Universität Göttingen meint, diese Ergebnisse könnten helfen, die Regeln der Gehirnentwicklung besser zu verstehen. „Zudem eröffnen sie neue Wege, um Konzepte für den klinischen Alltag zu entwickeln, welche die Regeneration und Rehabilitation erkrankter und verletzter Gehirne fördern.” Originalpublikation:Yusifov R, Tippmann A, Staiger JF, Schlüter OM, Löwel S. Spine dynamics of PSD-95-deficient neurons in the visual cortex link silent synapses to structural cortical plasticity. PNAS 2021;118(10):e2022701118.doi: https://doi.org/10.1073/pnas.2022701118
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