Paradigmenwechsel in der Rheumatologie Autoimmunität als normaler Vorgang – Checkpoints als Schutz

Hendrik Schulze-Koops auf der virtuellen Pressekonferenz zum DGRh-Kongress (Foto: HR, Biermann Medizin)

Warum Autoantikörper und autoreaktive Immunzellen nicht viel häufiger zu Autoimmunerkrankungen führen, welche biologischen Mechanismen sie in Schach halten und wie daraus Behandlungsoptionen entstehen können, haben Experten auf dem heute (9. September) beginnenden virtuellen Jahreskongress der Deutschen Gesellschaft für Rheumatologie (DGRh) und der heutigen digitalen Pressekonferenz diskutiert.

Über Jahrzehnte galt als gesichert, dass Immunzellen, die gegen körpereigene Strukturen gerichtet sind, in einem Reifungsprozess konsequent aussortiert werden. Erst in den vergangenen Jahren hat sich gezeigt, dass hinter dem Immunsystem komplexere Prozesse stecken als lange gedacht: Autoantikörper und autoreaktive Immunzellen gehören vielmehr zur normalen immunologischen Grundausstattung, berichtet die DGRh gegenüber Medienvertretern.

Der menschliche Körper bestehe aus einer kaum überschaubaren Zahl unterschiedlicher Eiweiße und Strukturen, die allesamt als Ziel für einen Immunangriff infrage kommen. Dass die Immunabwehr üblicherweise achtlos an ihnen vorüberpatrouilliert, müsse vor allem deshalb überraschen, weil einige dieser Strukturen stark den Antigenen auf Krankheitserregern ähneln, gegen die das Immunsystem durchaus vorgeht.

„Wie das Immunsystem dieses Dilemma löst, war lange Zeit unklar“, sagte Prof. Hendrik Schulze-Koops, Präsident der DGRh, Kongresspräsident 2020 und Leiter der Rheumaeinheit am Klinikum der LMU München. Zwar komme es vor, dass gegen einen Infektionserreger gebildete Antikörper mit körpereigenen Antigenen kreuzreagierten und so im schlimmsten Fall zu einer Autoimmunerkrankung führten. Das sei etwa bei manchen Arthritisformen der Fall, glücklicherweise jedoch nicht die Regel.

Wissenschaftliche Erkenntnisse, die diese Vorgänge in einem neuen Licht erscheinen lassen, kommen aus der Onkologie, betont die DGRh. Denn einige moderne Tumortherapien beruhten darauf, die körpereigene Abwehr in den Kampf gegen den Krebs einzubeziehen. „Neue Wirkstoffe, sogenannte Checkpoint-Inhibitoren, schalten gezielt solche Erkennungsmoleküle auf der Oberfläche der Tumorzellen aus, mit denen diese sich als „körpereigen“ ausweisen und der Immunabwehr entziehen“, erklärte Schulze-Koops. Indem sie dem Tumor diesen Schutz nehmen, machten die neuen Medikamente ihn zugänglich für den Zugriff durch T-Zellen – und sorgten für beeindruckende Therapieerfolge.

Als Nebenwirkung erleiden allerdings fast alle Patienten auch unerwünschte Autoimmunreaktionen. Denn auch gesundes Gewebe verliert durch die Therapie den Schutz vor der eigenen Immunabwehr und der allgegenwärtigen Autoimmunität, betonen die Experten. „Dass offenbar jeder Mensch immer auch Autoantikörper und autoreaktive Immunzellen besitzt, war eine überraschende Erkenntnis“, sagte Schulze-Koops.

Für Rheumatologen und ihre Patienten bedeute das ein Umdenken, denn der Nachweis von Autoantikörpern könne nicht mehr mit dem Vorliegen einer Autoimmunerkrankung gleichgesetzt werden. Nicht jeder Patient mit nachgewiesenen Antikörpern im Blut mache ihn zu einem Rheuma-Patienten. Für ein manifeste Erkrankung bedürfe es weiterer klinischer Symptome, betonte Schulze-Koops.

Eine Autoimmunerkrankung entstehe erst dann, wenn Regulationsmechanismen auf einer nachgeschalteten Ebene versagten. „Damit ergeben sich völlig neue Ansatzpunkte für die Therapie von entzündlich-rheumatischen Erkrankungen und anderen Autoimmunkrankheiten.“ Ein zellulärer Mechanismus, mit dem sich die Immunaktivität gegen körpereigene Strukturen unterbinden lasse, sei bereits identifiziert worden und diene als Ziel einer der neuen Biologikatherapien, die in den letzten Jahren gegen rheumatologische Erkrankungen entwickelt wurden, so der Experte. (hr)