Patient deutsches Gesundheitssystem: „Es passiert einfach nix“29. Oktober 2025 Zu Gast auf dem DKOU: BÄK-Präsident Klaus Reinhardt (r.) diskutierte mit (v.l.): Moderator Henning Quanz und den Kongresspäsidenten Christoph Lohmann, Ulriche Stöckle und Stefan Middeldorf. (Bild: hr, Biermann Medizin) Der Präsident der Bundesärztekammer (BÄK) Dr. Klaus Reinhardt war zu Gast auf dem DKOU 2025 und nutzte die Gelegenheit für eine Bestandsaufnahme des Deutschen Gesundheitssystems zusammen mit den Kongresspräsidenten. „Der Schuh drückt: Es fehlt an Geld, Ressourcen und Zeit für unseren Nachwuchs, damit wir im Fach gemeinsam die Zukunft gestalten können.“ Mit diesen Worten zum Zustand des Gesundheitswesens kündigte Kongresspräsident Prof. Christoph Lohmann, Klinikdirektor am Universitätsklinikum Magdeburg, den Gastredner der Eröffnungsveranstaltung des DKOU 2025 am Ende des ersten Kongresstages in Berlin an. Gemeint war BÄK-Präsident Dr. Klaus Reinhardt, der mit leichter Ironie versprach: „Ich werde ihnen heute Abend gesundheitspolitische Reflexionen zu Ihrer Erbauung präsentieren.“ Natürlich sollte es eben anders kommen. Denn wer über das deutsche Gesundheitssystem spricht – und es ist fast schon egal aus welcher Perspektive – äußert in der Regel seinen Unmut über dessen Zustand. So holte Reinhardt gleich aus, indem er über den Ist-Zustand Deutschlands sprach: Die wirtschaftliche Rezession, in der man sich derzeit befinde, sei wahrscheinlich größer als man je zuvor eine erlebt habe. Dies zeige sich etwa am Zustand, der Automobil- und deren Zulieferindustrie, die als deutsche Schlüsselindustrien am Abgrund stünden. Die Infrastruktur: marode. Die Demografische Situation in Deutschland: schlechter als in Frankreich, England oder den USA. „Wir sind nicht verteidigungsfähig, es gibt einen Fachkräftemangel, eine veränderte Arbeitsbereitschaft und China hat gerade erst begonnen uns vorzuführen, was noch droht“, so Reinhardt. Dies alles listete der BÄK-Präsident auf, „weil unsere soziales Sicherungssystem von diesen Entwicklungen wesentlich abhängig ist.“ Keine weiteren Gelder im System zu erwarten Reinhardt zeigte sich überzeugt, dass aufgrund dessen auch vom Bundesgesundheitsministerium keine weiteren Gelder zu erwarten sind, die in das Gesundheitssystem gesteckt würden. Im Gegenteil, der Anspruch wird Reinhardt zufolge sein, dass alle Strukturen des Systems neu betrachtet, überprüft und neu aufgestellt werden. „Wenn wir hier nicht aktiv mitarbeiten, dann werden uns die Antworten gegeben“, warnte er. Doch wie kann neues Geld bei steigenden Ausgaben im Gesundheitssystem generiert werden? Richtig sei es das aus dem GKV-Katalog sachfremde Leistungen gestrichen werden, die Gesundheitskosten der Bürgergeldempfänger über die Steuer zu finanzieren, sei richtig und spare sechs bis sieben Milliarden ein. Außerdem müssten die Abgaben auf Tabak und Alkohol erhöht werden, die dem Gesundheitssystem zugutekommen sollten, und auch bei der Pharmaindustrie könnten noch Einnahmen generiert werden, forderte Reinhardt. Doch all dies reiche nicht aus, um die steigenden Bedarfe an das Gesundheitssystem zu kompensieren. „Wir haben zwar im Vergleich zu anderen Ländern wesentlich mehr medizinische Personal aber auch mit die höchsten Fallzahlen und daher auf den Einzelfall bezogen die niedrigste Personalquote“, erläuterte Reinhardt – ein Problem, das aus mangelnden finanziellen Mitteln und zu geringer Vergütung erwachse. Doch wie können wir darauf reagieren, fragte er. Gemeinsam Reformkonzepte liefern und annehmen „Wir müssen Reformkonzepte liefern und auch dazu bereit sein“, forderte der BÄK-Präsident und legte mit den Vorschlägen los: „Das Rettungswesen und die Notfallreform muss als Gesamtpaket betrachtet werden und ohne Reibungsverluste funktionieren. Wir müssen regionale Bedarfe bei der Gesundheitsversorgung berücksichtigen, dürfen aber nationale Anforderungen dabei nicht aus dem Blick verlieren.“ Für den Zugang zur ärztlichen Versorgung konnte sich Reinhardt ein Primärarztsystem nur dann vorstellen, wenn eine intelligente Ersteinschätzung vorgeschaltet ist. Ein kurzfristiger Zugang zum Facharztsystem müsse weiterhin das Ziel sein. Die Mittelverteilung muss laut dem BÄK-Präsidenten neu überdacht werden, damit im Einzelfall mehr Ressourcen zur Verfügung stehen. So müssten etwa in Ballungsgebieten mit einer Überversorgung Krankenhausstandorte aufgegeben und auf dem Land das Gegenteil gemacht werden. Dort gelte es überhaupt eine qualitative Versorgung anzubieten oder aufrecht zu erhalten. Für all dies bedarf es laut Reinhardt aber „keiner Kopfgeburten von Ministerialbeamten, sondern nachvollziehbare, praktikable und akzeptable Gesetzesvorgaben“. Reinhardt kritisierte zudem die E-Akte, so wie sie sich derzeit darstelle. „Sie ist Lichtjahre entfernt von dem, was Künstliche Intelligenz bereits ermöglicht.“ Warum muss ich als Arzt bei der E-Akte ewig PDF-Dokumente durchscrollen, kritisierte Reinhard, der montags noch praktizierender Hausarzt in Bielefeld ist. „Das ist doch als Lösung erbärmlich für ein Land, dass sich einmal seiner großen Ingenieursleistungen gerühmt hat.“ Und schließlich müsse er auch noch das leidige Thema Entbürokratisierung ansprechen. Sichtlich genervt zeigte er sich von den Dokumentationspflichten, die Zeugnis einer „gnadenlosen Misstrauenskultur sind. Sie gehören sofort abgestellt.“ Wenn er Altenpflegeheime besuche und dort Pflegende sehe, die sich stundenlang mit Dokumentationssoftware beschäftigten, während nebenan ein alter Mensch liege, der genau in dieser Zeit keine Zuwendung erhalte, dann erzürne ihn das. „Das war Klartext und sie haben jetzt die Finger in viele Wunden des Gesundheitssystems gelegt“, fasste Moderator Henning Quanz die Ausführungen Reinhardts zusammen und wollte wissen, was ihn bei dieser Bestandsaufnahme überhaupt noch zuversichtlich stimmt. Der BÄK-Präsident hält hier offenbar nicht viel vom angestammten Politikpersonal, sondern setzt lieber auf junge Nachwuchspolitiker und das Prinzip Hoffnung: „Wenn man sie in Ruhe machen lässt, finden sie sicher auch Lösungen.“ Ökonomischer Druck auf Kliniken und Chefärzte Quant bemühte sich weiterhin um positive Signale und fragte Kongresspräsident Prof. Ulrich Stöckle, der ärztlicher Direktor der Charité in Berlin ist: „Wo sind wir auf einem guten Weg?“ „Lauterbach hat gute Ideen auf den Weg gebracht, begann Stöckle, „doch jetzt herrscht leider wieder etwas gesundheitspolitischer Stillstand“. Und auch er sparte nicht mit Kritik. „Es fehlt den Kliniken an Planungssicherheit, immer mehr schreiben rote Zahlen und der Druck auf die Klinken steigt bis an die Grenzen“, beschrieb Stöckle. Alle versuchten mit irgendwelchen Leistungen noch irgendwo Geld zu verdienen. Stöckle erwartet von der Politik in den nächsten zwei bis vier Jahren keine wegweisenden Lösungen und befürchtete, dass es der Markt dann richten werde, „aber das wollen wir ja nicht“. Aufgrund des wirtschaftlichen Drucks in vielen Kliniken sei auch der Karriereweg unter Druck geraten: „Chefarzt ist längst kein attraktiver Beruf mehr, weil die Administration mit hineinregiert“, konstatierte er. Faktor Mensch und marode Infrastruktur Lohmann befand als positiven Aspekt „den Faktor Mensch im Gesundheitssystem“. Denn die Menschen, die dort arbeiteten, seien leistungsbereit – auch die Generation Z will Leitung bringen“. Um dies zu erhalten, müsse aber gerade der mehr der Fokus auf die Frauen gerichtet werden, denn Medizin sei weiblicher geworden. „Wir brauchen mehr ‚protected time‘ für Frauen, wir brauche Rückkehrprogramme für Frauen in die Arbeit“, so Lohmann. Des Weiteren kritisierte aber auch er die marode Infrastruktur, die in vielen Kliniken ein Problem sei. Viele könnten sich es nicht mehr leisten, neueste Gerätschaften anzuschaffen. Im Umkehrschluss bedeutet das auch: „Wir können nicht überall Spitzenmedizin vorhalten.“ Attraktivere Ausbildung und attraktives Berufsbild vonnöten Kongresspräsident Dr. Stefan Middeldorf, nahm den medizinischen Nachwuchs nochmals in den Fokus. „Nach einem PJ will keiner mehr Chirurg werden, das ist erschreckend“, berichtete er wir müssen das Studium und die Ausbildung besser machen und für unser Fach wieder mehr Begeisterung wecken forderte er. Ebenso wie Stöckle kritisierte auch der Chefarzt einer Rehaklinik in Bad Staffelstein, dass keiner mehr Chef werden wolle aufgrund der großen Unberechenbarkeiten, mit denen dieser Job konfrontiert sei. „Unsere Medizin wird leider immer politisierter, das macht sowohl Klinikern als auch Niedergelassenen große Sorge für ihre persönliche Karriere und Entscheidungen“, stellte er fest. „Wegkommen von der Denke unseres Systems“ Bei all den Mängeln im deutschen Gesundheitssystem, die an diesem Abend aufgezeigt wurden blieb die etwas ratlose Frage im Raum zurück, wie dieses zukunftsfest gestaltet werden kann. Reinhardt warb dafür, „dass wir untereinander Lösungen finden und von der seit mehr als 30 Jahren bestehende Denke unseres Systems wegkommen“. Mit Mitteln aus dem Sondervermögen könnte dem BÄK-Präsidenten zufolge eine strukturierte und systematische Verbesserung des Gesundheitswesens anpacken. „Doch im Moment passiert eigentlich nix“, so das nüchterne Fazit Reinhardts. (hr/BIERMANN)
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