ESMO Congress 2021: Patienten und viele Mediziner können nur schwer mit der Explosion des onkologischen Wissens Schritt halten

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Die rasante Entwicklung auf dem Gebiet der Onkologie, die hauptsächlich durch die Krebsimmuntherapie verursacht wird, macht es für Patienten, Laien sowie für nicht auf Onkologie spezialisierte Ärzte schwierig, mit der Entwicklung der Prognose, Arzneimitteln und ihren potenziellen Nebenwirkungen Schritt zu halten. Das zeigen die Ergebnisse von zwei auf dem ESMO Congress 2021 vorgestellten Studien, die auf die Notwendigkeit einer breiteren Aufklärung über die aktuellen Standards der Krebsbehandlung schließen lassen. (1, 2)

Immuntherapie wird von Patienten oft missverstanden

Um das Wissen der Patienten über Immuntherapie zu bewerten, führte die mehrsprachige Plattform CareAcross, die personalisierte Schulungen für Krebspatienten bietet, eine Umfrage (1) unter 5589 ihrer Mitglieder vor allem in Großbritannien, Frankreich, Italien, Spanien und Deutschland zu Wirkmechanismus, Wirksamkeit, Nebenwirkungen und Kosten der Behandlung durch. „Die Immuntherapie ist zu einem wichtigen therapeutischen Ansatz geworden, mit dem heute täglich Tausende von Patienten in ganz Europa behandelt werden“, sagte Studienautor Dr. Paris Kosmidis, Mitbegründer und Chief Medical Officer von CareAcross. „Es ist wichtig, dass diese Personen gut informiert sind, weil es sich um eine komplexe Behandlung handelt, die zu oft mit einem Wundermittel verwechselt wird – und je mehr sie darüber wissen, desto besser ist die Kommunikation mit ihrem medizinischen Team und desto besser sind wahrscheinlich ihre Ergebnisse.”

Bei der Bitte, auf die Frage, wie die Immuntherapie funktioniert, aus mehreren möglichen Antworten eine Erklärung auszuwählen , antwortete fast die Hälfte aller Umfrageteilnehmer, bei denen entweder Brust-, Lungen-, Prostata- oder Darmkrebs diagnostiziert wurde, mit „nicht sicher/weiß nicht“, während nur etwa jeder Dritte (32%) die richtige Antwort wählte, dass sie „das Immunsystem aktiviert, um Krebszellen abzutöten“.

Ebenso glaubte mehr als die Hälfte der Befragten, dass die Immuntherapie sofort wirkt, wobei nur jeder Fünfte richtig angab, dass die Behandlung mehrere Wochen dauert, bis sie wirksam wird. „Das ist wichtig, weil Patienten ihre Therapie mit realistischen Erwartungen beginnen müssen, um beispielsweise Enttäuschungen zu vermeiden, wenn ihre Symptome erst nach einiger Zeit verschwinden“, erklärt Kosmidis.

„Weniger als die Hälfte der Lungenkrebspatienten (41%) gaben die richtige Erklärung dafür, wie die Immuntherapie funktioniert, und obwohl die Untergruppe derjenigen, die tatsächlich eine Immuntherapie erhalten hatten (241 Patienten), auf unsere verschiedenen Fragen doppelt so viele richtige Antworten gaben, haben sie ihre Toxizität im Vergleich zu anderen Therapien überschätzt“, berichtete Kosmidis und betonte, dass die Ergebnisse der Umfrage eine unzureichende Aufklärung widerspiegeln.

Co-Autor Thanos Kosmidis, Mitbegründer und CEO von CareAcross, war außerdem überrascht, dass die Kosten der Immuntherapie, die für einen einzelnen Patienten 100.000 Euro pro Jahr übersteigen können, weitgehend unbekannt waren: „In einer idealen Welt wären die Behandlungskosten irrelevant, aber insbesondere in den öffentlichen Gesundheitssystemen Europas verdienen es die Menschen, über die Mechanismen Bescheid zu wissen, die es den jenen, bei denen ein entsprechender Bedarf besteht, ermöglichen, Zugang zu dieser Art von Therapie zu erhalten.“

Der Immuntherapie-Experte Prof. Marco Donia, Herlev-Gentofte-Krankenhaus und Universität Kopenhagen, Dänemark, war nicht an den Studien beteiligt. Ihm zufolge wäre es in der Tat nützlich, das allgemeine Wissen über eine Behandlung zu verbessern, die verträglicher und wirksamer als eine Chemotherapie zu sein verspricht , die allerdings in einem Kontext mit steigender Krebsinzidenz mit hohen Kosten verbunden ist.

„Es ist jedoch nicht verwunderlich, dass Probanden in dieser Studie, die keine Immuntherapie erhielten, wenig darüber wussten. Denn als Ärzte möchten wir unsere Patienten nicht verwirren, indem wir mit ihnen über Behandlungen sprechen, die wir ihnen nicht anbieten werden“, sagte er. „Als Fortsetzung dieser Forschung, die sicherlich zu den ersten gehört, die diese Fragen untersucht, wäre es interessant, eine Umfrage durchzuführen, die sich nur auf Patienten konzentriert, die direkt für eine Immuntherapie in Frage kommen oder bereits mit einer Immuntherapie behandelt werden, und diese nicht nur dazu befragen, was sie wissen, sondern auch, wie sie auf bestimmte Nebenwirkungen reagieren würden. Das ist wichtig, weil gut informierte Patienten, die wissen, was sie erwartet, durch eine frühzeitige Behandlung 90% der Aufgabe übernehmen können, schwerwiegende Nebenwirkungen zu verhindern.“

Was Nicht-Spezialisten über einen hyperspezialisierten Onkologie-Schauplatz wissen müssen

Eine bessere Verbreitung des Wissens darüber, wie sich die Krebsbehandlung entwickelt hat, kann auch für medizinisches Fachpersonal außerhalb der Onkologie nützlich sein, um die Unterstützung der Patienten während ihres Krankheitsverlaufes zu verbessern. Laut Dr. Conleth Murphy, Bon Secours Hospital Cork, Irland, Co-Autor einer Umfrage (2), die die Wahrnehmung der Prognose von Krebspatienten durch Ärzte untersucht, ist die Bekanntgabe einer Krebsdiagnose der erste entscheidende Moment, in dem eine angemessene Beratung unerlässlich ist. Allerdings wird sie normalerweise nicht von einem Onkologen durchgeführt, sondern z. B. von einem Chirurgen. „Diese Nachricht zu erhalten, ist eine traumatische Erfahrung und Patienten haben oft sofort dringende Fragen, was dies für ihre Zukunft bedeutet“, sagte Murphy.

Um das Wissen der Ärzte über aktuelle Prognosen für verschiedene Krebsarten zu beurteilen, wurden 301 nicht auf Onkologie spezialisierte Ärzte und 46 medizinische und radiologische Onkologen gebeten, die Raten des 5-Jahres-Überlebens der Patienten für 12 der häufigsten Tumorarten über alle Krankheitsstadien hinweg abzuschätzen sowie für sechs klinische Szenarien mit definierter Krebsart, -stadium und Patientenmerkmalen wie dem Alter. Ihre Antworten wurden dann mit den neuesten Überlebenszahlen des National Cancer Registry of Ireland (NWRI) verglichen.

„Die Nicht-Onkologen, eine heterogene Gruppe von Allgemeinmedizinern und Fachärzten aus verschiedenen Krankenhausbereichen, lieferten für nur zwei der 12 Krebsarten genaue Schätzungen des Überlebens in allen Stadien, während Onkologen, die ausdrücklich gebeten wurden, ihre Prognoseinstrumente nicht zu verwenden, die richtigen Zahlen für vier angaben. Bei der realistischeren Aufgabe, Prognosen für bestimmte klinische Szenarien zu erstellen, haben die Nichtspezialisten das 5-Jahres-Überleben über die Tumorarten hinweg deutlich unterschätzt und waren auch pessimistischer als die Onkologen insgesamt“, berichtete Murphy. „Diese Ergebnisse stimmen mit unseren Erwartungen überein, da das Wissen der meisten Ärzte über Onkologie auf die Schulung zurückgeht, die sie während ihrer Ausbildung erhalten haben. Daher bleiben ihre Wahrnehmungen zur Krebsprognose hinter den deutlichen Gewinnen beim Überleben, die in der jüngsten Vergangenheit erzielt wurden, zurück.”

Zur Bestätigung der Häufigkeit, mit der Nicht-Spezialisten mit Krebspatienten in Kontakt kommen, erklärte Dr. Cyril Bonin, Allgemeinmediziner in Usson-du-Poitou, Frankreich: „In meiner Praxis werden jedes Jahr etwa 10 neue Fälle diagnostiziert, und etwa 50 von meinen 900 regelmäßigen Patienten sind Krebsüberlebende, die sich derzeit in aktiver Behandlung befinden oder von ihrer Krankheit geheilt sind. Wenn man bedenkt, dass diese Zahl in verschiedene Tumorarten unterteilt ist, wird unsere Wahrnehmung einer bestimmten Krebserkrankung als Hausarzt wahrscheinlich auch von den Ergebnissen der spezifischen Fälle beeinflusst, denen wir begegnet sind.“

Um zu vermeiden, dass Menschen mit unangemessen düsteren Erwartungen konfrontiert werden, empfahl Murphy allen Ärzten, die in ihrer Klinik routinemäßig mit Krebspatienten interagieren, sich mit den neuesten Statistiken und Prognosetrends vertraut zu machen. Gleichzeitig betonte er, dass Nicht-Onkologen immer davon Abstand nehmen sollten, Patientenfragen mit Zahlen zu beantworten. „In unserer Umfrage haben wir festgestellt, dass eine der am stärksten unterschätzten 5-Jahres-Überlebensraten unter Nicht-Onkologen die von Brustkrebs im Stadium IV war, die sich im Laufe der Zeit erheblich weiterentwickelt hat und jetzt in Irland 40% erreicht. Diesen Patienten müssen die traumatischen Auswirkungen eines Todesurteils, das nicht mehr der aktuellen Realität entspricht, erspart bleiben“, argumentierte er.

Zu den Ergebnissen sagte Donia: „Die Onkologie ist ein hochspezialisiertes Gebiet mit vielen verschiedenen Subgruppen von Patienten bzgl. der Stadieneinteilung und ebenso vielen Prognosen – und ein Arzt, der sich mit Melanomen befasst, wird nicht unbedingt die Überlebensraten für verschiedene Arten und Stadien von Brustkrebs kennen”, sagte er. „Es ist nicht verwunderlich, dass Ärzte außerhalb der Onkologie noch schlechter abschneiden. Auch ist es nicht ganz realistisch, von Ärzten, die mit Hunderten von verschiedenen Krankheiten zu tun haben, zu erwarten, dass sie mit jeder Facette einer sich schnell verändernden Onkologie-Landschaft Schritt halten.“

Bonin fügte hinzu: „Inmitten dieser wachsenden Komplexität besteht ein wichtiger Teil der Rolle des Hausarztes bei der Krebserkrankung eines Patienten darin, die Informationen, die ihm von seinem Onkologen gegeben wurden, neu zu formulieren, um ihm ein besseres Verständnis seiner Situation zu vermitteln. Insbesondere, wenn es um die neueren Behandlungsformen geht, habe ich die Erfahrung gemacht, dass Patienten den Unterschied zur herkömmlichen Chemotherapie nicht immer verstehen. Eine konsequentere Kommunikation mit dem Onkologie-Team über den erwarteten Nutzen einer Therapie, mögliche Nebenwirkungen und Auswirkungen auf die Prognose könnte uns helfen, Patienten kompetent zu führen und ihnen die erforderliche psychologische Unterstützung zu bieten.“

Referenzen:

  1. Abstract 1510MO_PR ‘European cancer patients’ perspectives on immunotherapy’ will be presented by Paraskevas Kosmidis during the Public Policy Mini Oral Session on Saturday 18 September, 17:30 to18:30 (CEST) on Channel 5. Annals of Oncology, Volume 32, 2021 Supplement 5
  2. Abstract 1723P_PR ‘Therapeutic nihilism or therapeutic realism: Perceptions of non-oncologist physicians regarding cancer patients’ prognosis’ will be available as e-Poster as of Thursday, 16 September at 08:30 CEST. Annals of Oncology, Volume 32, 2021 Supplement 5
  3. M. Reck, D. Rodríguez-Abreu, A.G. Robinson, R. Hui, T. Csőszi, A. Fülöp, M. Gottfried, N. Peled, A. Tafreshi, S. Cuffe, M. O’Brien, S. Rao, K. Hotta, T.A. Leal, J.W. Riess, E. Jensen, B. Zhao, C. Pietanza and J.R. Brahmer. Five-Year Outcomes With Pembrolizumab Versus Chemotherapy for Metastatic Non–Small-Cell Lung Cancer With PD-L1 Tumor Proportion Score ≥ 50%. https://doi.org/10.1200/JCO.21.00174
  4. M. Donia, E. Ellebaek, T.H. Øllegaard, L. Duval, J.B. Aaby, L. Hoejberg, U.H. Køhler, H. Schmidt, L. Bastholt and I.M. Svane. The real-world impact of modern treatments on the survival of patients with metastatic melanoma. https://doi.org/10.1016/j.ejca.2018.12.002
  5. D. Waterhouse, J. Lam, K.A. Betts, L. Yin, S. Gao, Y. Yuan, J. Hartman, S. Rao, S. Lubinga and D. Stenehjem. Real-world outcomes of immunotherapy-based regimens in first-line advanced non-small cell lung cancer. https://doi.org/10.1016/j.lungcan.2021.04.007