Patientensteuerung als Mittel gegen die „Flatrate-Mentalität”?15. März 2024 SpiFa-Diskussionsrunde: Dirk Spelmeyer, Annette Rommel, Karin Maag, Dirk Heinrich, Franz Knieps, Moderatorin Jessica Hanneken (v.l.). Screenshot: Schmitz Angesichts des absehbaren Ärztemangels und eines höheren Bedarfs durch die alternde Bevölkerung diskutierten Experten beim 10. Fachärztetag des Spitzenverbandes Fachärzte Deutschlands (SpiFa) am 14.03.2024 in Berlin mögliche Lösungen, um Patienten durchs System zu steuern – oder ganz von einem Arztbesuch abzuhalten. In ihrem Impulsreferat beklagte Karin Maag, unparteiisches Mitglied des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA), eine „Flatrate-Mentalität“ bei manchen Patienten. „Es fehlt das Kostenbewusstsein bei den Patienten. Nach meiner Ansicht ist das All-inclusive-Versprechen nicht mehr zu halten“, sagte sie. Die vom Sozialgesetzbuch V vorgegebene „ausreichende, zweckmäßige und notwendige“ Versorgung sei von den Gerichten mehrfach so interpretiert worden, dass damit nicht nur ein Mindestmaß gemeint ist, sondern die bestmögliche Versorgung nach dem aktuellen Stand der Medizin. „Wir sind heute an einem Kipp-Punkt angelangt“, so Maag, denn die Kosten liefen durch das „unbegrenzte Leistungsversprechen“ aus dem Ruder. Leistungskürzungen hat Bundesgesundheitsminister Prof. Karl Lauterbach (SPD) kategorisch ausgeschlossen. Man könne aber auch nicht alles über den Zusatzbeitrag regeln, so Maag. Also bliebe nur die Hebung von Effizienzreserven oder eine Eigenbeteiligung der Patienten. Als Vorschlag brachte die G-BA-Vertreterin eine Gebühr von fünf Euro pro Arztbesuch ins Gespräch. Auch ein Bonussystem wie bei den Zahnärzten, bei dem die Teilnahme an Vorsorgeuntersuchungen Vergünstigungen bei einem Eingriff bedeute, sei eine Möglichkeit. Sollen Patienten mit “Befindlichkeitsstörungen” zahlen? In der folgenden Diskussionsrunde griff Franz Knieps, Vorstandsvorsitzender des BKK-Dachverbandes, Maags Analyse auf und bestätigte, das Leistungsversprechen sei sehr hoch angesiedelt, wenn etwa per Gericht eingefordert wird, bei tödlichen Erkrankungen alle Möglichkeiten auszuschöpfen. „Da wird jede Evidenz über Bord geworden“, klagte Knieps. Auch komplementäre Heilmethoden müssten nicht unbedingt von der Versichertengemeinschaft bezahlt werden, sondern seien ein Fall für Zusatzversicherungen. Maags Fünf-Euro-Vorschlag sah er jedoch kritisch: „Eine niedrige Beteiligung mit vielen Ausnahmen steuert nicht. Das müsste schon eine hohe Beteiligung mit wenigen Ausnahmen sein.“ Knieps schlug stattdessen vor, Patienten, die bloß mit Befindlichkeitsstörungen in die Praxis kommen, zur Kasse zu bitten. „Und ein Patient, der sich von einem Hausarzt regelmäßig betreuen lässt, statt durch das System zu laufen, der soll wirtschaftliche Vorteile haben.“ Auch der Urologe Dr. Dirk Spelmeyer, Vorstandsvorsitzender der Kassenärztlichen Vereinigung Westfalen-Lippe, klagte über die Belastung durch solche Patienten und forderte: „Patienten, die nicht wirklich krank sind, müssen vom Praxispersonal abgefangen werden.“ Der Hals-Nasen-Ohren-Arzt und SpiFa-Vorstandsvorsitzende Dr. Dirk Heinrich stimmte ihm zu. „Wir müssen die Patienten davon abhalten, dann in die Praxis zu kommen.“ Er berichtete, dass viele Patienten bei ihm mit einem Tubenkatarrh infolge einer Erkältung in die Praxis kämen. „Das sehe ich als Banalität“. Die Hausärztin Dr. Annette Rommel, Vorsitzende der Kassenärztlichen Vereinigung Thüringen, konnte dem jedoch nicht zustimmen: „Ich sehe nicht, dass die Patienten nicht krank in die Praxis kommen.“ Bevor man die Patienten vom Praxisbesuch abhält, müsse zuerst einmal eine gesunde Lebensführung in der Gesellschaft gefördert werden. Kioske für die Gesundheitsbildung? Auch Heinrich hält eine intensive Gesundheitsbildung für notwendig. „Das ist der Erfolgsansatz des Gesundheitskiosks“. Der SpiFa-Vorsitzende ist Mitinitiator des Gesundheitskiosks in Hamburg-Billstedt. Gesundheitsminister Lauterbach will bundesweit 1000 solcher Kioske aufstellen, um ein niederschwelliges Angebot bereitzustellen. Dies wiederum stieß auf Kritik von Ärzten, die eine Substituierung ihrer Arbeit befürchten. Rommel entgegnete Heinrichs Gedanken, man dürfe die Gesundheitserziehung nicht auf die Ärzte abwälzen. BKK-Vertreter Knieps ist sich ohnehin sicher: „Die 1000 Kioske kommen niemals, davon bin ich vollends überzeugt.“ Hausärztin Rommel wiederum ist sich sicher: „Eine Eigenbeteiligung wird nicht kommen, das ist gar nicht auf der Agenda.“ Lauterbach schaffe im Gegenteil gerade Zusatzleistungen bei Notfalldienst. „Angebot schafft Nachfrage. Die Patienten dafür zu bestrafen, ist der falsche Weg.“ Auch Spelmeyer ruderte wieder zurück: „Eine Praxisgebühr ist nicht zeitgemäß. Eine Gebühr für Befindlichkeitsstörungen ist nicht zu machen.“ Stattdessen schlug er vor: Bei der Bahn gebe es doch auch eine erste und zweite Klasse. Warum könne man so etwas nicht auch beim Praxisbesuch einführen, etwa über einen Basistarif? Jahrespauschale trifft auf Zustimmung Wenn die Experten selbst ihre Vorschläge als unrealistisch ansehen, was bleibt dann noch? Als einen gangbaren Weg sehen viele Lauterbachs Jahrespauschale. „Wir müssen von dem Quartalsgedanken weg, dieses System macht Fehlanreize“, sagte Spelmeyer. Auch Knieps hält eine Jahrespauschale „für unbedingt nötig“. Maag appellierte, die Selbstverwaltung solle selbst Konzepte entwickeln und dem Minister vorlegen. Knieps stimmte zu: „Es fehlt uns nicht an Erkenntnissen. Es fehlt uns Gestaltungswillen, parteiübergreifend.“ (ms)
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