Patientenversorgung nach bestem verfügbaren Wissensstand bis heute nicht sichergestellt

Bild: cagkan – stock.adobe.com

Zum Welttag der evidenzbasierten Gesundheitsversorgung (20.10.) hat Cochrane Deutschland für das Land noch Nachholbedarf bei diesem Thema ausgemacht.

„Patientinnen und Patienten in Deutschland haben Anspruch darauf, auf Grundlage vertrauenswürdiger wissenschaftlicher Evidenz behandelt zu werden – also nach dem besten verfügbaren Kenntnisstand“, fordert Prof. Jörg Meerpohl, Direktor von Cochrane Deutschland in Freiburg. „Leider ist das aber bis heute nicht immer sichergestellt.“

Dabei sei eine evidenzbasierte Gesundheitsversorgung angesichts des Milliardendefizits der Gesetzlichen Krankenkassen heute wichtiger denn je, so Meerpohl. „Wir müssen dafür sorgen, dass das knappe Geld für jene Therapien oder Untersuchungen ausgegeben wird, die erwiesenermaßen am besten helfen. Und das geht nur, wenn wir wirklich wissen, was wirkt – und was eben nicht.“

Laut Chochrane Deutschland stoßen im Alltag Mediziner, Pflegekräfte und anderes Gesundheitspersonal noch immer auf einige Hürden, wenn sie ihre Patienten nach dem aktuellsten Stand der Wissenschaft behandeln und betreuen möchten: „Es ist nämlich aus verschiedenen Gründen oft gar nicht so einfach, überhaupt an das beste verfügbare Wissen zu gelangen“, so Meerpohl, der folgende Hürden benennt.

Hürde 1: Verstreute internationale Studienlage

Das weltweit aktuellste Wissen zu Medizin- und Gesundheitsfragen liegt häufig nicht gebündelt vor, sondern versteckt sich gewissermaßen verstreut in vielen einzelnen Studien. Diese Studien müssen in sogenannten systematischen Evidenzsynthesen zusammengesucht, ausgewertet und zusammengefasst werden. Für diese aufwendige Arbeit braucht es aber Experten: „Es kostet viel Zeit und Geld, die internationale Studienlage in solchen Übersichtsarbeiten umfassend und wissenschaftlich exakt zu bewerten und zusammenzufassen. Deswegen brauchen Forschende dafür mehr öffentliche Fördergelder als bisher“, erläurtert Meerpohl. „Denn ohne ausreichende Förderung gibt es für viele relevanten Fragen keine hochwertigen Evidenzsynthesen. Und ohne hochwertige Evidenzsynthesen kann es keine vertrauenswürdigen medizinischen Leitlinien für Ärztinnen und Ärzte geben – und also auch keine evidenzbasierte Gesundheitsversorgung.“

Hürde 2: Viele Studien bleiben unveröffentlicht

Ein erheblicher Teil klinischer Studien weltweit bleibt unveröffentlicht. „Das verschwendet nicht nur knappe Forschungsgelder“, so Meerpohl, „sondern verzerrt vor allem auch die Faktenlage.“ Cochrane Deutschland fordert daher, dass neue Studien vor ihrem Beginn verpflichtend registriert und ihre Ergebnisse zeitnah veröffentlicht werden müssen. „Dazu braucht es verbindliche Regelungen, deren Einhaltung auch überprüft wird“, fordert der Direktor von Cochrane Deutschland. „Nur so kann es uns gelingen, Forschung effizienter zu machen und das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Wissenschaft zu wahren.“

Hürde 3: Informationen oft zu kompliziert, nicht niedrigschwellig oder frei zugänglich

Selbst wenn es verlässliche, evidenzbasierte Informationen zu Medizin- und Gesundheitsfragen gibt, die unabhängig von Interessenskonflikten sind, sind diese laut Cochrane Deutschland „längst nicht immer frei zugänglich und für jeden gut verständlich formuliert“. „Eigentlich brauchen wir zu jeder relevanten medizinischen Fragestellung niederschwellige Patienteninformationen genauso wie kompakte Zusammenfassungen für Politiker*innen sowie medizinische Leitlinien und Fachartikel für Expert*innen im Gesundheitssystem“, konstatiert Meerpohl. „Und idealerweise sollten all diese Informationen kostenfrei zur Verfügung stehen. Das ist aber heute nicht der Fall – gerade dann nicht, wenn es um Fachpublikationen geht. Denn die liegen häufig hinter den Bezahlschranken der Verlage.“

Angesichts der großen Herausforderungen im deutschen Gesundheitswesen reicht es laut Meerpohl aber nicht aus, evidenzbasierte Gesundheitsinformationen besser verfügbar zu machen und im Alltag stärker zu nutzen. Vielmehr müssten dann auch Taten folgen und zum Beispiel all jene medizinischen Maßnahmen und ihre Vergütung überprüft werden, deren Nutzen fraglich sei: „Gesundheitspolitische Entscheidungen werden meist in einem gesellschaftlichen Spannungsfeld getroffen, in dem Evidenz nicht das einzige Argument ist. Aber sie dürfen den Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse nicht ignorieren“, so Meerpohl. „Denn wenn die verfügbare Evidenz konsequent berücksichtigt wird, können unnötige Behandlungen oder Untersuchungen vermieden werden. Und das würde sich doppelt lohnen: Die Patienten hätten weniger Aufwand – und unser Gesundheitssystem weniger Ausgaben.“