Pinguine in Ekstase – oder machen sie einfach ihrem Unmut Luft?

Das häufige Verhalten des „ecstatic display“ ist bisher noch unverstanden. Erste Hinweise zu seiner Erklärung gefunden hat nun ein Team aus Wissenschaftler*innen der TU Berlin am Exzellenzcluster „Science of Intelligence“ (SCIoI), der University of Oxford sowie der Oxford Brookes University. Foto: © Ignacio Juarez Martínez

Mit neuartigen „Eventkameras“ bringen TU-Forschende Licht in ein merkwürdiges Verhalten von antarktischen Pinguinen. Die Tiere strecken sich, schauen in den Himmel, schlagen mit ihren Flügeln und stoßen einen lauten Ruf aus.

In der Fachwelt wird dieses häufige, aber bisher unverstandene Verhalten „ecstatic display“ (ekstatische Vorführung) genannt. Erste Hinweise zu seiner Erklärung hat nun ein Team aus Wissenschaftlern der TU Berlin am Exzellenzcluster „Science of Intelligence (SCIoI)“, der University of Oxford sowie der Oxford Brookes University gefunden. Ihre Hypothese: das ecstatic display ist eine Art Revierverhalten, das besonders dann auftritt, wenn ein Pinguin lange auf seinen Partner oder seine Partnerin warten muss. Diese Erkenntnis hat das Team mit Hilfe des völlig neuen Konzepts der „Eventkameras“ gewonnen. Im Gegensatz zu herkömmlichen Kameras nehmen sie nicht ganze Bilder auf einmal auf, sondern registrieren für jedes Pixel getrennt nur die Veränderungen in der Helligkeit (die „Events“). Eventkameras könnten neben vielen anderen Anwendungsmöglichkeiten die Tierbeobachtung wesentlich erleichtern und verbessern.

Mit einer Eventkamera (im durchsichtigen Kasten oben) beobachteten die Forschenden mehrere Wochen lang 16 Pinguin-Nester zur Brutzeit. Die Eventkamera eignet sich ideal für den einsamen Einsatzort mit schlechten Lichtverhältnissen. Ihr Stativ muss mit Steinen gegen die heftigen Winde von mehr als 100 km/h auf der Vulkaninsel gesichert werden. Foto: © Ignacio Juarez Martínez

Es ist eine Stunde Fußmarsch, um von der spanischen Forschungsstation auf Deception Island, einer Insel im Norden des antarktischen Kontinents, bis hinauf zur Punta Descubierta zu gelangen. Wie der spanische Name andeutet, handelt es sich um einen Wind und Wetter ausgesetzten, mit Algen spärlich bewachsenen Felsrücken. Hier befindet sich eine Kolonie von sogenannten Zügelpinguinen, die in der Antarktis zahlreich vorkommen. „Insgesamt leben dort etwa 20.000 Tiere, die sich auch durch die häufigen Winde von über 100 Kilometern pro Stunde nicht abschrecken lassen“, erzählt Dr. Ignacio Juarez Martínez vom Fachbereich Biologie der University of Oxford.

Frühere Studien wurden widerlegt

Juarez Martínez erforschte in seiner Doktorarbeit das Verhalten der Zügelpinguine; unter anderem wollte er mehr über das merkwürdige Phänomen des ecstatic display herausbekommen. „Eine der wenigen Studien dazu beschäftigte sich mit Adeliepinguinen, einer mit den Zügelpinguinen verwandten Art. Dort schien es, dass nur Männchen das ecstatic display zeigen, und das vor allem im antarktischen Frühling im Oktober. Die Forschenden gingen deshalb davon aus, dass es sich um ein Paarungsritual handeln könnte. Wir konnten nun zeigen, dass dies nicht stimmen kann.“

Exzellenzcluster Science of Intelligence bringt Forschende zusammen

Geholfen hat Ignacio Juarez Martínez einer jener wichtigen Zufälle in der Wissenschaft, die zustande kommen, wenn man Forschernde unterschiedlicher Disziplinen zusammenbringt. Der Exzellenzcluster „Science of Intelligence“, der an der TU Berlin angesiedelt ist, fördert genau diesen wissenschaftlichen Austausch, indem er Wissenschaftler aus über zwölf Disziplinen vereint, um die Prinzipien von Intelligenz zu erforschen. „Dort ist einer von Ignacios Doktorvätern, Prof. Dr. Alex Kacelnik, leitender Wissenschaftler, um die Intelligenz von Tieren zu erforschen“, erzählt Doktorand Friedhelm Hamann von der TU Berlin. „Er kam am Cluster mit meinem Doktorvater ins Gespräch.“ Hamanns Betreuer, Prof. Dr. Guillermo Gallego, leitet an der TU Berlin das Fachgebiet „Robotic Interactive Perception“ und ist ebenfalls Mitglied des Exzellenzclusters. Im Rahmen der Erforschung neuer Sinne für Roboter hat er die Technik der Eventfotografie entscheidend weiterentwickelt. Gallego und Kacelnik stellten fest, dass die Vorteile der Eventkameras auch für die Tierbeobachtung nützlich sein könnten, so kam eine Kollaboration ihrer Doktoranden zustande.

Eventfotografie arbeitet ohne Belichtungszeit

Die Eventfotografie ist vom menschlichen Sehen inspiriert: Ähnlich wie bei den Vorgängen in der Netzhaut trägt jedes lichtempfindliche Pixel der Kamera zeitlich unabhängig zum Gesamtbild bei – es gibt also keine Belichtungszeit, nach der alle Pixel auf einmal ausgelesen werden. Da die Pixel nur ein Signal senden, wenn sich die Stärke des Lichteinfalls ändert, verbrauchen Eventkameras weniger Energie. Und weil es keine Belichtungszeit gibt, für die sich die Kamera entscheiden muss, können helle wie dunkle Bereiche annähernd gleich gut dargestellt werden. Eventkameras eigenen sich also sehr gut für schlechte Lichtverhältnisse. Zudem ist die Reaktionszeit einer Eventkamera durch den Wegfall der Belichtungszeit kleiner, was es einfacher macht, schnelle Bewegungen – wie etwa das Schlagen der Pinguinflügel – zu analysieren.

Aufnahmen der Eventkameras werde mit Maschinellem Lernen ausgewertet

„In Vergleichstests haben wir ermittelt, dass die für das Projekt verwendete Eventkamera fünfmal weniger Energie verbraucht als eine herkömmliche Kamera“, berichtet Friedhelm Hamann. „Diese Eigenschaft sowie die gute Aufnahmequalität auch bei schlechten Lichtverhältnissen prädestiniert die Eventkamera für den Einsatz in entlegenen Orten wie den der Pinguinkolonie. Wir konnten die Tiere so fast kontinuierlich beobachten.“ 16 Nester wurden dabei zur Brutzeit mehrere Wochen lang gefilmt. Anschließend haben die Forschenden 24 je zehnminütige Videosequenzen untersucht und die Stellen markiert, an denen ein Pinguin das ecstatic display zeigte. „Dies kommt erstaunlich oft vor, rund 20-mal pro Stunde“, so Hamann. Mit diesen markierten Videosequenzen wurden Algorithmen trainiert, die danach aus den gesamten Aufnahmen diejenigen mit ecstatic display herausfiltern konnten. „Diese Algorithmen wurden ursprünglich für Spielkonsolen entwickelt, bei denen die Bewegungen der Spieler detektiert werden müssen“, erklärt Hamann.

Ekstatische Wellen laufen durch die Pinguinkolonie

Zusätzlich zu diesen Computeranalysen wurde den beobachteten Pinguinen Blut abgenommen, um ihr Geschlecht zu bestimmten – sie haben nämlich keine von außen sichtbaren Geschlechtsorgane. „Unsere Untersuchungen haben ergeben, dass beide Geschlechter gleich häufig das ecstatic display zeigen. Da wir zudem die Pinguine außerhalb der Paarungszeit beobachtet haben, kann es sich nicht um ein Paarungsritual handeln“, berichtet Ignacio Juarez Martínez. Stattdessen stellten die Wissenschaftler zum einen fest, dass das ecstatic display quasi ansteckend ist; direkte Nachbarn werden von diesem Verhalten dazu angeregt, es ebenfalls zu zeigen. „Auf diese Weise kann tatsächlich so etwas wie eine ekstatische Welle durch die gesamte Pinguin-Kolonie laufen“, so Juarez Martínez.

Ekstatisches Verhalten beim Warten auf den Partner

Was allerdings noch viel interessanter ist: Jeder Pinguin zeigt umso öfter das ecstatic display, je länger er bereits auf seinen Partner beziehungsweise die Partnerin wartet. „Pinguine teilen sich das Brüten und auch die Versorgung der Küken. Immer abwechselnd sitzen sie auf dem Nest, während der andere im Meer nach Krill jagt. Die Jungtiere werden mit hervorgewürgtem Mageninhalt gefüttert“, erklärt Juarez Martínez. In dieser Fütterungszeit steigt die Anzahl der ecstatic displays exponentiell mit der bereits verstrichenen Zeit seit der Wachablösung. „Besonders nach der sechsten Stunde, zu der der Partner eigentlich wieder zurück sein sollte, nimmt die Häufigkeit extrem zu.“ Der dahinterstehende Zweck ist für die Forschenden immer noch unklar. Sie halten es für möglich, dass es sich um eine Art Revierverhalten handelt und wollen mit dieser Arbeitshypothese nun weitere Untersuchungen anstellen.

Auch nach dem Schlüpfen aus dem Ei muss jeweils ein Partner beim Nest bleiben, um das junge Küken zu wärmen. Der andere geht derweil auf Jagd nach Krill. Foto: © Ignacio Juarez Martínez


Vielfältige Anwendungen der Eventfotografie

„Der hohe Informationsgehalt des Datensatzes der Eventkamera hat dazu beigetragen, dass wir das ecstatic display so genau untersuchen konnten“, sagt Juarez Martínez. Die Wissenschaftler am Exzellenzcluster SCIoI der TU Berlin haben inzwischen weitere Projekte mit Tierforschern vereinbart. So werden sie mit der Eventkamera zum Beispiel das Verhalten von Vögeln analysieren. „Besonders vorteilhaft ist hier die schnelle Reaktionszeit der Kamera, die extreme Zeitlupenaufnahmen ermöglicht“, sagt Friedhelm Hamann. Er freut sich über diese neue Anwendungen. „Eventkameras können Robotern das Sehen erleichtern, autonom fahrende Autos sicherer machen, Industrieprozesse analysieren. Große Chiphersteller arbeiten sogar daran, sie in die Kameras von Smartphones einzubauen. Dass wir jetzt auch der Verhaltensforschung helfen können, zeigt, wie vielseitig diese neue Technologie und wie interdisziplinär die Forschung hier bei SCIoI ist.“

PDF der Veröffentlichung: https://arxiv.org/pdf/2312.03799