Primäre Zilien: Neuer Blick ins Innere einer Zell-Antenne

Die Kryo-Elektronentomographie zeigt Tubulindimere in Grün und EB1-Proteine in Gelb, die sich entlang der Mikrotubuli des primären Ziliums der Niere befinden. Die Rolle dieser ungewöhnlichen Verteilung von EB1 wird derzeit untersucht. Kiesel et al. in Nature Structural & Molecular Abbildung: Biology / MPI-CBG

Der Mensch verlässt sich auf seine Sinne wie Sehen, Hören, Schmecken oder Riechen, um die Umwelt zu erkunden. Einzelne Zellen dagegen nehmen ihre Umwelt durch Zilien wahr, antennenartige Strukturen, die aus den meisten Wirbeltierzellen herausragen. Dresdner Forscher haben nun eine Methode entwickelt, mit deren Hilfe es ihnen gelang, neue Merkmale der bislang wenig verstandenen primären Zilien zu entdecken.


Zellen tasten ihre Umgebung ab und senden Signale an andere Zellen. Das ist wichtig, damit eine Zelle richtig funktionieren kann. Verantwortlich dafür ist das Zilium. Es gibt zwei Arten von Zilien: bewegliche und nicht bewegliche. Während die beweglichen Zilien umfassend erforscht wurden, sind die dreidimensionale Architektur und die molekulare Zusammensetzung der nicht beweglichen Zilien, auch primäre Zilien genannt, weitgehend unbekannt. Nahezu alle Zelltypen von Säugetieren haben ein primäres Zilium.
Die Forschungsgruppe von Gaia Pigino am Max-Planck-Institut für molekulare Zellbiologie und Genetik (MPI-CBG) in Dresden hat nun eine Methode entwickelt, um die Struktur der primären Zilien mit molekularer Auflösung mittels Kryo-Elektronentomographie zu untersuchen. Diese Arbeit liefert wichtige Einblicke in die Biologie der primären Zilien und einen methodischen Ansatz zur weiteren Untersuchung dieser Organellen unter verschiedenen gesunden und krankhaften Bedingungen.

Netzhautdegeneration mögliche Folge einer Ziliendysfunktion
Zilien ermöglichen es den Zellen, sich zu bewegen, zu kommunizieren und molekulare Signale zu interpretieren. Im Inneren eines Ziliums befindet sich ein auf Mikrotubuli beruhendes Zytoskelett, das bei beweglichen Zilien bisher ziemlich umfassend untersucht wurde. Das Gegenteil trifft auf die primären Zilien zu, die lange Zeit als ein Überbleibsel der Evolution und fälschlicherweise als eine vereinfachte Version der beweglichen Zilien angesehen wurden. Aber im Gegensatz zu den beweglichen Zilien, die sich nur auf einigen Zelltypen in unserem Körper befinden, haben die meisten unserer Zellen primäre Zilien. Die Photorezeptor-Zilien zum Beispiel nehmen Licht wahr und wir können sehen, die Riech- und Sinneszilien ermöglichen es uns zu riechen.
Angesichts dieser zentralen Rolle der Zilien in unserem Körper, können Fehlfunktionen ein breites Spektrum an menschlichen Krankheiten verursachen, einschließlich Netzhautdegeneration, polyzystischer Nierenerkrankung, Bardet-Biedl-Syndrom oder Herzerkrankungen. Es ist daher entscheidend, die primären Zilien besser zu verstehen. Bis heute gibt es nur wenig mechanistisches Wissen darüber, wie die primären Zilien ihre Funktionen erfüllen. Bisher hindern fehlende Methoden daran, sie besser zu verstehen und ihre Struktur bei molekularer Auflösung zu erforschen.

Einzelne Proteine identifizierbar gemacht
Mit dieser Zielsetzung machten sich Forschungsgruppenleiterin Pigino und ihr Team am MPI-CBG daran, die Struktur der primären Zilien zu erforschen. Sie begannen, eine Methode zu entwickeln, die es ihnen ermöglichen würde, die molekulare Struktur der primären Zilien in hoher Auflösung zu sehen. Die Herausforderung bestand darin, die Zilien von den Zellen zu trennen, ohne ihre vielen feinen Strukturdetails zu zerstören, und sie dann unter einem besonders leistungsfähigen Elektronenmikroskop zu beobachten. Petra Kiesel, die Laborassistentin der Forschungsgruppe und diejenige, die die Methode entwickelte, erklärt: „Wir kombinierten eine Abwandlung einer bestehenden chemischen Methode mit einer mechanischen, um die Zilien aus Nierenzellen direkt auf dem Mikroskopie-Träger zu isolieren, um sie dann mit unserem bevorzugten Elektronenmikroskop sichtbar zu machen.“ Dazu verwendeten die Forscher eine Methode namens Kryo-Elektronentomographie (Kryo-EM), ein spezielles Verfahren, um gefrorene biologische Proben so abzubilden, dass vollständige 3-D-Modelle ihrer Molekularstruktur erstellt werden können. Mit dieser Methode konnten die Forscher nun primäre Zilien mit einer so hohen Auflösung beobachten, dass einzelne Proteine identifizierbar waren.

Aktin-Filamente gefunden
Gonzalo Alvarez Viar, Doktorand in der Forschungsgruppe, berichtet: „Die Strukturen, die wir fanden, unterscheiden sich stark von denen, die wir von den beweglichen Zilien kennen. Ihr Zytoskelett ist weniger geordnet und hat eine weniger symmetrische Struktur. Von den beweglichen Zilien ist bekannt, dass sie eine neunfache Symmetrie haben, um sich fortzubewegen, das konnten wir bei den primären Zilien aber nicht beobachten.“ Aber nicht nur die Struktur bekannter Komponenten erweist sich als anders. Die primären Zilien überraschten auch mit einer Reihe anderer Besonderheiten, zum Beispiel mit dem Vorkommen von Aktin-Filamenten. Aktin-Filamente kommen im Zytoplasma eukaryotischer Zellen vor und bilden einen Teil des Zytoskeletts. „Es war für uns eine große Überraschung, filamentöses Aktin in Zilien zu finden. Es wurde zwar gelegentlich durch andere Experimente angedeutet, aber nur wenige Leute glaubten wirklich daran, da es nie handfeste Beweise dafür gab“, sagt Pigino, die die Studie leitete.

Diese Ergebnisse, die eine Menge bisher unbekannter Fakten und überraschende Unterschiede zwischen den gut untersuchten beweglichen Zilien und den kaum erforschten primären Zilien aufzeigen, wurden nun in “Nature Structural” and “Molecular Biology” veröffentlicht. „Unsere Methode wird den Weg für viele tiefgreifende Untersuchungen der primären Zilien ebnen und es uns im Umkehrschluss ermöglichen, diese wichtigen Organellen bei Tier und Mensch hinsichtlich Gesundheit und Krankheit besser zu verstehen,“ resümierte Pigino.

Originalpublikation:
Kiesel P et al. The molecular structure of mammalian primary cilia revealed by cryo-electron tomography. Nat Struct Mol Biol, 28. September 2020.