Reinhardt kündigt für den Ärztetag umfassende gesellschaftliche Diskussionen an

Klaus Reinhardt, Präsident der Bundesärztekammer (BÄK), hier beim 125. Deutschen Ärztetag in Berlin. Foto: Jürgen Gebhardt

Am 24. Mai 2022 beginnt der 126. Deutsche Ärztetag in Bremen. Bei einer Vorab-Pressekonferenz in Berlin stellte Dr. Klaus Reinhardt, Präsident der Bundesärztekammer (BÄK), die wichtigsten Themen vor. Die GOÄ kam nur am Rande vor.

Auch dieses Jahr fällt der Ärztetag wieder in herausfordernde Zeiten, wie Reinhard betonte – nicht nur durch die COVID-19-Pandemie, sondern auch durch Ukraine-Krieg. “Die Ärzteschaft versucht auch hier, ihren Beitrag zu leisten, das funktioniert seit einigen Wochen ziemlich reibungslos”, sagte Reinhardt.

In Bremen veranstaltet die BÄK ihren ersten Ärztetag in Präsenz seit 2019, mit den üblichen Vorkehrungen gegen SARS-CoV-2-Infektionen – “wichtig”, “vertretbar” und “an der Zeit”, ist der BÄK-Präsident überzeugt.

Versorgungsbedarf und Pandemie-Belastungen

Als zwei Schwerpunktthemen nannte Reinhardt den Versorgungsbedarf in einer “Gesellschaft des langen Lebens” und Auswirkungen der Pandemie auf Kinder und Jugendliche.

Was die Versorgung betrifft, steht einer zunehmenden Zahl an Erkrankten eine sinkende Zahl Versorgender gegenüber, wie Reinhardt betonte. Es gebe zwar mehr Ärzte, aber weniger geleistete Arbeitsstunden pro Person. Wie damit umzugehen sei, werde beim Ärztetag diskutiert. Bedeutend sei, Strukturen zu schaffen, in denen ein Arzt neben der medizinischen Expertise “den Teil der ärztlichen Tätigkeit, der mit Empathie zu tun hat”, wie Reinhardt formulierte, angemessen ausüben kann. Es stehe ein Paradigmenwechsel bevor: “Der Erlös kann nicht mehr den Bedarf bestimmen.” Dafür werde man in Bremen auf sachlicher Basis Instrumente vorstellen.

Beim Thema Pandemie hob Reinhardt hervor, dass besonders Kinder und Jugendliche durch Schulschließungen, Lockdowns und Kontaktbeschränkungen unter sekundäre Belastungen stünden. Folgeerscheinungen sei eine Zunahme psychischer Probleme bis hinzu psychiatrischen Erkrankungen, Entwicklungshemmnisse und Bildungsdefizite. Diese seien in verschiedenen Milieus unterschiedlich stark ausgeprägt, sodass die soziale Komponente der Problematik und die Gefahr für die soziale Chancengleichheit mit berücksichtigt werden müssten. “Kinder sind nicht politisch organisiert und können ihre Interessen nicht so gut vertreten. Das zu übernehmen, steht den Ärzten gut an”, betonte der Ärztepräsident. Auch kündigte er die Generalsekretärin der Bundesschülerkonferenz, Katharina Swinka, als Gastrednerin auf dem Ärztetag an. Auf die Frage einer Journalistin nach konkreten Forderungen antwortete Reinhardt: “Wir werden auf jeden Fall die Forderung stellen, dass man sich mit den Experten auseinandersetzt.” Eine möglichst einheitliche Umsetzung von Corona-Maßnahmen sei anzustreben.

Blaupausen für sektorübergreifende Versorgung

Als weitere Punkte, die auf dem Ärztetag diskutiert werden sollen, nannte Reinhardt die allgemeine Gesundheitspolitik mit Strukturreformen und der Fortentwicklung der sektorenübergreifenden Versorgungsformen, „flüssig ohne Brüche“, wie der BÄK-Präsident fordere. “Die Zeit ist hochreif; wir tun gut daran, dass die Ärzteschaft sich daran beteiligt.” Derzeit seien solche Kooperationen abhängig von Individualengagement, es fehle eine Blaupause, die dies zum Standard machen könne.

Die Besetzung der Regierungskommission für die Krankenhausreform ausschließlich mit Wissenschaftlern sei nicht ausreichend, sagte Reinhardt auf Nachfrage. Er halte es für unabdingbar, “erlebte Praxis einzubeziehen”. Es sei zielführender, “möglichst viele mitzunehmen”, sonst seien “die Beharrungskräfte in unserem komplexen Gesundheitssystem” so stark, dass am Ende nichts dabei herauskommt. Das Bundesgesundheitsministerium hatte angekündigt, dass die Kommission kein endgültiges Gutachten erarbeiten soll, sondern Zwischenergebnisse präsentiert werden sollten. “Wenn dies dann mit den Praktikern diskutiert wird, ist das vielleicht ein Weg”, sagte Reinhardt.

Als langfristiges Thema liegt dem Ärztepräsidenten die Gesundheitskompetenz der Bevölkerung am Herzen: nicht nur in Bezug auf die Pandemie, sondern vor allem wegen der Zunahme chronischer Erkrankungen. Auf dem Ärztetag soll diskutiert werden, wie man den Trend zu immer früher im Leben auftretenden Erkrankungen wie Bluthochdruck, Adipositas und Diabetes umkehren könnte. Gesundheit greife in alle Politikbereiche hinein, betonte Reinhardt und bezog sich damit ausdrücklich auf Rudolf Virchow. “Eine aufgeklärte Gesellschaft ist reif, darüber zu diskutieren”, so Reinhardt. Jedoch müsse man in Kauf nehmen, dass der Effekt erst nach langer Zeit zutage treten wird.

Bezüglich der Triage-Diskussion der vergangenen Tage forderte Reinhardt: “Da sollte die Ampel noch mal ran.” Eine Ex-post-Triage sei nicht gangbar. “Man kann von niemandem erwarten, diese Entscheidung zu treffen.” Eine Triage zu operationalisieren, sei aber nicht banal, gab er zu bedenken. Unverständnis äußerte er allerdings darüber, dass der Vorschlag erst das Ministerium verlassen und wird dann vom Minister wieder einkassiert worden sei.

GOÄ: Reinhardt gehört nicht zu den “Fahnenschwenkern”

Dass der Ärztepräsident die Novelle der Gebührenordnung für Ärzte (GOÄ) nicht ansprach, sorgte unter den Journalisten für Verwunderung, und so sprach eine Journalistin das Thema an. Offenbar reihte Reinhardt das Thema inzwischen schon unter die “Routine”-Themen ein, die, wie er beiläufig bemerkte, auch immer Platz beim Ärztetag haben – oder hat er es bereits aufgegeben?. “Ich werde das Thema in der Eröffnungsrede ansprechen, aber ich will mein Pulver jetzt nicht verschießen”, sagte Reinhardt. Er gab aber zu bedenken, dass man sich in einer Pandemie und in einer Kriegssituation befinde, “deshalb gehöre ich nicht zu den Fahnenschwenkern”. Dennoch forderten die Ärzte die neue GOÄ ein, “weil es eine Zumutung ist, mit einer veralteten GOÄ zu arbeiten”. Für eine Novelle sei es “hohe Zeit”, völlig unabhängig von dem, was Bundesgesundheitsminister Prof. Karl Lauterbach (SPD) zuvor gesagt habe. Dieser hatte der GOÄ derzeit öffentlich keine Priorität eingeräumt. Beim Fachärztetag im März hatte der Ärztepräsident angekündigt, er werde Lauterbach mit anders lautenden Äußerungen konfrontieren (wir berichteten). “Ich glaube, dass der Ärztetag da eine klare Meinung abgibt”, betonte Reinhardt.

In Bremen versammeln sich ab dem 24.05.2022 vier Tage lang 250 ärztliche Abgeordnete aus ganz Deutschland. Eröffnet wird der Deutsche Ärztetag im großen Saal des Bremer Konzerthauses “Die Glocke”, unter anderem im Beisein von Bundesgesundheitsminister Lauterbach und von Claudia Bernhard (Die Linke), Senatorin für Gesundheit, Frauen und Verbraucherschutz der Freien Hansestadt Bremen.

(ms)