Routine-Check beim Augenarzt: Mit KI-generiertem Netzhaut-Screening zur kardiovaskulären Risikovorhersage

Diabetologe Prof. Diethelm Tschöpe, Vorsitzender der Stiftung Diabetes I Herz I Gefäße (DHG), Düsseldorf – Ophthalmologe PD Hans-Joachim Hettlich, Ärztlicher Leiter der Augenklinik am Johannes Wesling Klinikum (JWK), Minden.Foto.©Stiftung DHG und Augen-Praxisklinik Minden

Eine aktuelle Arbeit zeigt, dass mit Hilfe von künstlicher Intelligenz (KI) beim augenärztlichen Routine-Check die Vorhersage unerwünschter, schwerwiegender Ereignisse bei Menschen mit Typ-2-Diabetes einfacher und präziser werden könnte.

In der Diagnostik diabetischer Augenerkrankungen sind die Untersuchung der Retina mit Augenspiegel oder Lupensystemen sowie die Darstellung von Zellschichten, Flüssigkeitsansammlungen und Blutgefäßen der Netzhaut mit Fluoreszenzangiografie, optischer Kohärenztomografie oder OCT-Angiografie etabliert. Klinisch erprobt und rasant entwickeln sich KI-gestützte Screening-Tools, um diabetische Netzhautveränderungen rechtzeitig festzustellen. KI-Verfahren zur Abschätzung des kardiovaskulären (CV) Risikos bei Menschen mit Typ-2-Diabetes über die Netzhaut hingegen sind eher neu. Eine diabetische Retinopathie gilt als Prädiktor für CV-Ereignisse und vorzeitigen kardiovaskulären Tod (CVD). Im fortgeschrittenen Stadium der Retinopathie verdoppelt sich das Risiko.

Retina-Score mit erhöhtem 10-Jahres-MACE-Risiko assoziiert

Die Vorhersage unerwünschter CV-Ereignisse könnte nun mit KI im Routine-Screening der Netzhaut einfacher und präziser werden, wie eine in der Fachzeitschrift „Cardiovascular Diabetology“ publizierte Studie zeigt. Es wurden 6127 Patienten mit Typ-2-Diabetes ohne Herzinfarkt oder Schlaganfall in der Vorgeschichte in die Untersuchung eingeschlossen. Neben Berechnung des 10-Jahres-CVD-Risikos mittels PCE (Pooled Cohort Equation)-Risiko-Sore erfolgte ein polygener Risiko-Score (PRS) für die koronare Herzkrankheit. Die Analyse der Netzhautaufnahmen wurde anhand eines EfficientNet-B2-Netzwerks durchgeführt, um das 10-Jahres-CVD-Risiko einzuschätzen. Primäres Studienziel war die Zeit bis zum Auftreten des ersten schwerwiegenden CV-Ereignisses (MACE), einschließlich kardiovaskulärem Tod, Myokardinfarkt oder Schlaganfall.

Die Wissenschaftler ermittelten, dass bei 1241 Patienten (mittleres PCE-10-Jahres-CVD-Risiko 35 %) eine hohe Korrelation zwischen dem retinal vorhergesagten CVD-Risiko und dem PCE-Risiko-Score (r = 0,66) vorlag, nicht aber mit dem PRS (r = 0,05). Zudem konnten die Forscher beobachten, dass ein höheres durch die Retina vorhergesagtes Risiko signifikant mit einem erhöhten 10-Jahres-MACE-Risiko assoziiert war (HR 1,05 pro 1 % Anstieg; 95 % CI 1,04-1,06, p < 0,001). Die Studie belegt: Mit einem Deep-Learning-KI-Modell kann MACE im Retina-Screening genau vorhergesagt werden. Das ermöglicht eine Risikobewertung für CV-Ereignisse bei Routine-Untersuchungen der Netzhaut, wie die Autoren schlussfolgern.

Fundusaufnahme für Netzhaut-Screening
mittels KI. Foto.©Augen-Praxisklinik Minden

KI kann Diagnostik beschleunigen

Eine optimistische Einschätzung zum Nutzen von KI beim Retinopathie-Screening zur Vorhersage kardiovaskulärer Ereignisse kommt von Experten der Diabetologie und Ophthalmologie. Mit KI könne es schneller gehen als über traditionelle Wege der Risikoerfassung, erzählt Prof. Diethelm Tschöpe von der Stiftung DHG in Düsseldorf. „Viele Instrumente, die in der klinischen Routine standardisiert eingesetzt werden, auch zum Beispiel Framingham oder andere Scores, sind zeitraubend. Und Zeit ist das, was Ärzten fehlt, worunter nicht selten die Sorgfalt in der Diagnostik leidet“, ergänzt Tschöpe.

Die Studie sei ein weiteres Beispiel, welches Potenzial in KI stecke, meint Privatdozent Hans-Joachim Hettlich von der Augenklinik am JWK Minden, der auch die Stiftung DHG fördert. Bei der Suche nach Netzhautschäden werde schon länger auf KI-gestützte Diagnostik gesetzt, um betroffene Patienten frühzeitig zu entdecken. „Ein Problem ist aber, dass wir Patienten in vielen Fällen zu spät sehen“, erklärt der Ophthalmologe. Nur etwa die Hälfte der Menschen mit Typ-2-Diabetes ließen sich wie vorgesehen alle zwei Jahre augenärztlich untersuchen. Zudem würden Ärzte ihre Patienten oft erst schicken, wenn Krankheitsstadien weit fortgeschritten sind. „Alles steht und fällt mit dem Zeitpunkt der Diagnose und der Möglichkeit zu einer Therapie“, fassen Tschöpe und Hettlich zusammen. Hier könne KI zumindest als Add-on einen Beitrag leisten, schneller zur Diagnose zu kommen oder Risiken einzuordnen. „Das ersetzt nicht die ärztliche Leistung mit Untersuchung von Patienten, Ergebnis-interpretation und Therapieentscheidungen, die zu treffen sind.“ KI ergänze den diagnostischen Werkzeugkoffer.

Über die Stiftung DHG

Die Stiftung DHG (Diabetes I Herz I Gefäße) wurde 1999 mit dem Auftrag gegründet, zum Krankheitsverständnis beizutragen, Menschen über das Herz- und Gefäßrisiko aufzuklären und den Dialog zwischen behandelnden Ärzten über Fachgrenzen hinaus zu fördern. Vier Endokrinologen und Diabetologen, fünf Kardiologen und drei Neurologen gehören zum Vorstand. Das Team der gemeinnützigen Stiftung engagiert sich ehrenamtlich und hält an den Prinzipien Wissenschaftlichkeit, Unabhängigkeit und Glaubwürdigkeit fest. Ziel der Stiftung ist es auch, Forschung voranzubringen und die Versorgung zu verbessern.