Screening auf psychische Erkrankungen: Ein Drahtseilakt2. Januar 2025 Ein Screening-Prozess erfordert mehr als nur das Ausfüllen von Patientenfragebögen. (Foto: © otello-stpdc – stock.adobe.com) Die psychische Gesundheit ist spätestens seit der COVID-19-Pandemie in den Mittelpunkt der Gesundheitspolitik gerückt. Wissenschaftler des Austrian Institute for Health Technology Assessment GmbH haben analysiert, ob und unter welchen Gesichtspunkten ein Screening auf psychische Erkrankungen in der Primärversorgung geeignet wäre. In Österreich ist beinahe jeder fünfte Erwachsene jährlich von einer psychischen Erkrankung betroffen. Am häufigsten treten dabei Depressionen (10 %), Angststörungen (7 %) und Probleme mit Substanzmissbrauch bzw. -abhängigkeit (rund 12 %) auf. Generell gilt, dass arbeitslose Personen, Menschen mit finanziellen Sorgen und jene, die sich um ein krankes Familienmitglied kümmern, eher betroffen sind. In seinem Bericht geht das Austrian Institute for Health Technologie Assessment (AIHTA) daher der Frage auf den Grund, ob und wie ein Screening auf psychische Erkrankungen bei Erwachsenen umsetzbar wäre – und zwar im Setting der Primärversorgung. Hohe Dunkelziffer an Betroffenen Dies gilt umso mehr, als es eine hohe Dunkelziffer an Betroffenen gibt, die unter psychischen Erkrankungen leiden, gleichzeitig aber keine Hilfe in Anspruch nehmen. Die Studienlage gibt dazu mehrfach Hinweise: Daten aus Österreich und Deutschland zeigen, dass rund 60 Prozent der Menschen mit psychischen Erkrankungen keinerlei Behandlung in Anspruch nehmen. Aber wie erreicht man Personen, die eine Therapie benötigen, am besten? Ziel eines Screenings ist es, Personen zu identifizieren, die an bestimmten Krankheiten leiden, es jedoch noch nicht wissen oder eine Prädisposition dafür besitzen. In Hinblick auf psychische Erkrankungen bedeutet das auch, „physische Symptome, die auf ein psychisches Leiden hindeuten, rechtzeitig zu erkennen“, erklärt Julia Kern, Erstautorin des Berichts und wissenschaftliche Mitarbeiterin des AIHTA. Schlaflosigkeit, Müdigkeit, Antriebslosigkeit – oftmals klagen Patienten über somatische Symptome, ohne dabei an ein psychisches Problem zu denken. Erste Anlaufstelle bei derartigen Beschwerden ist nicht selten der Hausarzt/die Hausärztin. Ein entsprechendes Screening in der Primärversorgung aufzusetzen wäre daher grundsätzlich schlüssig. Screening: Mehr als nur ein Test Die Implementierung eines derartigen Gesundheitsprogramms müsste aber umfassend angegangen werden. Denn: „Man darf ein Screening auf psychische Erkrankungen keinesfalls nur als Test ansehen, der beispielsweise im Zuge der Vorsorgeuntersuchung durchgeführt wird“, erklärt Kern. Zwar würden internationale Studien die Genauigkeit von Tests – in der Regel handelt es sich dabei um Fragebögen für die Patienten – belegen. Dieser Ansatz greife aber zu kurz. Kern: „Es geht um das Abbilden und Umsetzen des gesamten Screening-Prozesses.“ Das beginnt bei der Definition des Zieles, das erreicht werden soll, beinhaltet das Einladungsmanagement und damit die Definition jener Personengruppen, die erfasst werden sollen und führt weiter bis hin zur Gestaltung der Therapiemöglichkeiten im Bedarfsfall. Pro und contra Screening Im Jahr 2020 wurde im Rahmen der Überarbeitung der Vorsorgeuntersuchung (VU) keine Aufnahme eines formalen Screenings auf Depressionen unter anderem aufgrund der Länge des Tests und der limitierten therapeutischen Möglichkeiten für Personen mit leichter Depression empfohlen. Dazu kam die Befürchtung einer unnötigen zusätzlichen Verschreibung von Psychopharmaka. Inanna Reinsperger, Projektleiterin beim AIHTA, ergänzt: „Der mögliche Schaden eines generellen Screenings reicht von unnötigen Tests und längeren Wartezeiten auf Diagnostik und Therapie bei hoher Anzahl falsch-positiver Ergebnisse, bis hin zu verspäteten Diagnosen bei Personen mit falsch-negativen Ergebnissen, sowie Überdiagnostik und Therapie.“ Sofern es nicht ausreichend Therapieplätze gibt, ist mit steigenden Wartezeiten für die Betroffenen zu rechnen. Eine weitere Herausforderung betrifft die Akzeptanz der VU als Setting für ein derartiges Screening. Denn: „Aktuell nehmen jährlich nur rund zwölf Prozent daran teil – Personen mit psychischen Erkrankungen tendenziell noch seltener“, so die Autorinnen. Bei der Analyse von neun internationalen systematischen Reviews und 28 Leitlinien zu diesem Thema bot sich folgendes Bild: Die Evidenz für ein Screening der gesamten Bevölkerung auf psychische Erkrankungen ist dünn. Gleichzeitig gibt es eine Reihe an erprobten Tests und auch evidenzbasierte Leitlinien, die ein Screening empfehlen – und zwar für bestimmte Personen- und Patientengruppen. „Wir haben uns auch Leitlinien zu körperlichen Erkrankungen, etwa Herzinsuffizienz, Diabetes oder Krebs angesehen. Dort wird festgehalten, dass betroffene Menschen regelmäßig auch auf psychische Erkrankungen wie Depressionen oder Angststörungen gescreent werden sollten“, berichtet Reinsperger. In diese Richtung könne man weiterdenken. „Krankheitsbild-basierte Screenings, die auf entsprechenden Leitlinien aufbauen, wären in der Primärversorgung vorstellbar.“ Alternativen zum Screening: Entstigmatisierung vorantreiben Vorab lautet der Vorschlag der Autorinnen aber, jedenfalls mögliche Alternativen zu einem Screening-Programm zu prüfen. Reinsperger: „Primäres Ziel muss es sein, das Leid durch psychische Erkrankungen zu minimieren. Hier gilt es, die sinnvollste Methode zu finden, die auch einer Kosten-Nutzen-Rechnung standhält.“ Das Problemfeld ist groß: Ein erster Schritt wäre, das Angebot an verfügbaren Therapieplätzen sowie die finanzielle Unterstützung für Betroffene auszubauen. Ein weiterer konkreter Vorschlag des AIHTA betrifft die umfassende Aufklärung und Information der Bevölkerung. „Es sollte alles getan werden, was zur Entstigmatisierung beiträgt. Psychische Erkrankungen sind nach wie vor ein Tabu“, formuliert es Kern. Zudem fehle es an Wissen über mögliche Symptome und darüber, wo man Hilfe erhalten kann. Weiters gebe es bei der Wahl der Behandlungen Spielraum. Kern: „Je nach Schweregrad der Erkrankung geht es darum, auch leichtere, kürzere Therapieformen ins Auge zu fassen.“ Reinsperger ergänzt: „Es braucht klar definierte Wege, welche Diagnose welche Behandlung nach sich zieht. Hier gibt es aktuell noch Nachholbedarf.“
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