Seltene genetische Varianten erhöhen das ADHS-Risiko deutlich

Ein komplexes Zusammenspiel von genetischen Faktoren und Umweltbedingungen führt zur Entstehung psychischer Erkrankungen wie ADHS. (BIld: © UKW/Canva)

Eine internationale Studie zeigt: Seltene genetische Varianten erhöhen das ADHS-Risiko, indem sie die Gehirnentwicklung beeinflussen. Dadurch verschieben sich Bildungs- sowie kognitive Leistungen bei ADHS-Betroffenen.

Die Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) ist eine Neuroentwicklungsstörung mit hoher Erblichkeit, deren genetische Grundlage aus Tausenden von Varianten besteht. Die meisten dieser Varianten erhöhen die Wahrscheinlichkeit einer ADHS-Diagnose jedoch nur geringfügig.

Eine internationale Studie unter der Leitung von Forschenden der Universität Aarhus (Dänemark) wurde in Zusammenarbeit mit Partnern wie dem Broad Institute of MIT und Harvard (USA), der Radboud Universiteit (Niederlande) und dem Universitätsklinikum Würzburg (UKW) durchgeführt. Das Team zeigte, dass auch sogenannte „high-effect genetic variants“, also seltene, stark wirkende genetische Varianten, eine wichtige Rolle spielen. Die Ergebnisse wurden in der Fachzeitschrift „Nature“ veröffentlicht.

Störungen der Gehirnentwicklung und -funktion

In die Studie flossen genetische Analysen von fast 9000 Personen mit ADHS und von 54.000 Personen ohne ADHS ein. Diese wurden mit Analysen der Gehirnzellfunktion und Registerdaten zu Bildung und sozioökonomischem Status kombiniert. Die Forschenden fanden heraus, dass Personen mit seltenen Varianten in den drei Genen MAP1A, ANO8 und ANK2 ein deutlich erhöhtes ADHS-Risiko aufweisen, zum Teil um mehr als das 15-Fache. Diese genetischen Varianten sind zwar sehr selten, beeinflussen jedoch stark die Aktivität von Genen in den Nervenzellen. Bei Menschen, die diese Varianten tragen, kann die Entwicklung und Kommunikation zwischen den Nervenzellen daher gestört sein. Dies wiederum kann zu ADHS führen. „Die Ergebnisse zeigen erstmals klar benannte Gene, in denen seltene, stark wirkende Varianten eine hohe Anfälligkeit für ADHS verursachen und grundlegende biologische Mechanismen beeinflussen“, fasst Prof. Anders Børglum, Seniorautor der Studie, zusammen.

Die Analyse kombinierter genetischer und Genexpressionsdaten zeigt, dass die seltenen, an ADHS beteiligten Varianten insbesondere die Funktion dopaminerger und GABAerger Neurone beeinflussen. Diese Zelltypen sind für Aufmerksamkeit, Impulskontrolle und Motivation von großer Bedeutung. Die Auswirkungen lassen sich bereits im fetalen Leben nachweisen und reichen bis ins Erwachsenenalter. „Unsere Ergebnisse unterstützen die Annahme, dass Störungen der Gehirnentwicklung und -funktion zentral für die Entstehung von ADHS sind“, erklärt Prof. Ditte Demontis, Erstautorin der Studie. „Unsere Kolleginnen und Kollegen am Broad Institute analysierten, welche Proteine mit den Proteinen interagieren, die von den drei identifizierten ADHS-Genen kodiert werden. Sie identifizierten ein größeres Netzwerk von Proteinen, das ebenfalls bei anderen neurologischen Entwicklungsstörungen wie Autismus und Schizophrenie eine Rolle spielt. Das liefert Einblicke in biologische Zusammenhänge über mehrere psychiatrische Diagnosen hinweg.“

Auswirkungen auf Intelligenz, Bildung und Beschäftigung

Die seltenen genetischen Varianten beeinflussen den Forschenden zufolge nicht nur, wer ADHS entwickelt. Sie beeinflussen auch, wie es den Betroffenen im Bildungssystem und auf dem Arbeitsmarkt ergeht. Die Forschenden verknüpften genetische Daten mit dänischen Registerdaten. So fanden sie heraus, dass Personen mit ADHS und seltenen Varianten im Durchschnitt einen geringeren Bildungsstand und einen niedrigeren sozioökonomischen Status haben als Betroffene ohne diese Varianten. Bei Erwachsenen mit ADHS der Würzburger Stichprobe beobachteten die Forschenden eine durchschnittliche Abnahme des IQ-Werts um etwa 2,25 Punkte pro seltener Hochrisikovariante.

Die Ergebnisse erweiterten das Verständnis der biologischen Grundlagen von ADHS und könnten die Basis für zukünftige Behandlungsmethoden bilden, so die Autoren. Laut Studienteam ist das erst der Anfang. Ihre Berechnungen zeigen, dass es viele weitere seltene kausale Varianten gibt, die in noch größeren Studien identifiziert werden können.

Bei vielen Betroffenen besteht ADHS im Erwachsenenalter fort

ADHS ist die häufigste neuroentwicklungsbedingte Störung im Kindesalter. Bei bis zu 60 Prozent der Betroffenen besteht sie jedoch auch im Erwachsenenalter fort. Sie ist mit erheblichem psychischem Leidensdruck verbunden – etwa durch wiederholte Misserfolge oder Frustrationserleben. Zudem entwickeln viele Erwachsene mit ADHS im Laufe ihres Lebens mindestens eine weitere psychische Erkrankung. Dazu gehören unter anderem Depressionen, Angststörungen oder Suchterkrankungen. Allerdings spricht nur etwa die Hälfte der Betroffenen ausreichend auf die derzeit gängigen Behandlungsformen wie Psychostimulanzien oder psychotherapeutische Verfahren an. „Mit unserer Forschung möchten wir daher ein besseres Verständnis der neurobiologischen und psychologischen Ursachen von ADHS und seinen häufigen Begleiterkrankungen gewinnen, um langfristig die dringend notwendige Entwicklung zusätzlicher Therapieansätze zu unterstützen“, fasst Dr. Georg Ziegler, leitender Oberarzt und Leiter der Forschungsgruppe zu ADHS im Erwachsenenalter, zusammen.