Studie: Medizinische Forschung geht am tatsächlichen Bedarf oft vorbei

Bedarf verfehlt: Laut einer neuen Untersuchung beschäftigt sich die Gesundheitsforschung aktuell nicht in ausreichendem Maße mit Erkrankungen, die inzwischen für den Großteil der globalen Krankheitslast verantwortlich sind. (Foto: © A. Hartung/stock.adobe.com)

Eine neue Studie unter Beteiligung von Forschern der Universität Mannheim zeigt: Krankheiten wie Diabetes oder Suchterkrankungen nehmen weltweit zu, die Forschung dazu hinkt jedoch hinterher und findet schwerpunktmäßig nur in einigen wenigen Ländern statt.

Die weltweite Gesundheitsforschung beschäftigt sich nur unzureichend mit Krankheiten, die für den Großteil der globalen Krankheitslast verantwortlich sind. Zu diesem Ergebnis kommt eine aktuelle Langzeitstudie, die mithilfe Künstlicher Intelligenz rund 8,6 Millionen wissenschaftliche Veröffentlichungen mit Daten zur Krankheitslast der vergangenen 20 Jahre verknüpft hat. Veröffentlicht wurde die Arbeit gerade in „Nature Medicine“.

Verschiebung von übertragbaren zu nicht übertragbaren Krankheiten

Das zentrale Ergebnis der Studie: Die Kluft zwischen Forschung und tatsächlicher Krankheitslast hat sich zwar seit 1999 halbiert – was laut den Wissenschaftlern ein Zeichen dafür ist, dass sich die globale Gesundheitsforschung zunehmend am realen Bedarf orientiert. Allerdings sei der Grund dafür eher unerwartet: Der Rückgang entstehe vor allem dadurch, dass übertragbare Krankheiten wie HIV/AIDS, Malaria oder Tuberkulose auf dem Rückzug sind, wie die Arbeitsgruppe berichtet. Sie machen inzwischen einen deutlich kleineren Anteil an der weltweiten Krankheitslast aus als noch vor zwei Jahrzehnten.

Gleichzeitig haben nicht übertragbare Krankheiten – etwa Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Suchterkrankungen oder Diabetes – global zugenommen. Die Forschung habe sich an diese Verschiebung bislang aber kaum angepasst, so die Ansicht der Studienautoren.

„Bisher wussten wir, dass Forschung und Krankheitslast oft nicht zusammenpassen – aber wie sich dieses Ungleichgewicht über die Zeit verändert hat, war weitgehend unbekannt“, erklärt Prof. Marc Lerchenmüller, korrespondierender Autor der Studie. Er ist an der Universität Mannheim und am Leibniz-Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung (ebenfalls Mannheim) tätig. Dort liegen Lerchenmüllers Forschungsschwerpunkte auf den Gebieten Innovations­ökonomie, Technologie- und Innovations­management sowie Wissenschafts­politik und Trans­lation.

Krankheiten global, Forschung oft lokal

Die Studie zeigt eine klare Zweiteilung: Die Krankheitslast lokal auftretender Infektionskrankheiten ist deutlich zurückgegangen. Als Konsequenz ist die Kluft zwischen Forschung und Krankheitslast in diesem Bereich um etwa 75 Prozent kleiner geworden.

Anders verhält es sich den Wissenschaftlern zufolge bei chronischen, nicht übertragbaren Krankheiten: Hier ist die Kluft um 25 Prozent gestiegen. Diabetes nimmt beispielsweise auch in Südamerika und in einigen asiatischen Ländern die Ausmaße einer Volkskrankheit an. „Nichtübertragbare Krankheiten sind ein globales Problem – doch die Forschung dazu findet bislang vor allem in den westlichen Ländern statt und hinkt der globalen Zunahme der Krankheitslast hinterher“, konstatiert Erstautor Dr. Leo Schmallenbach, Habilitand am Lehr­stuhl für Organisation und Innovation der Universität Mannheim.

Diese gegenläufigen Entwicklungen sind nach der Auffassung der Forschenden dafür verantwortlich, dass sich die Bilanz auf den ersten Blick erheblich verbessert hat. Doch sollten sich die Forschungsschwerpunkte in Zukunft nicht verändern, dürfte die Schere in den kommenden Jahrzehnten wieder auseinandergehen und möglicherweise bis 2050 sogar um ein Drittel wachsen, warnen die Forschenden.

Nötig ist ein offener, internationaler Austausch in der Forschung

Besorgniserregend ist laut der Studie vor allem die hohe Abhängigkeit der internationalen Gesundheitsforschung von öffentlicher Förderung aus den USA. Ein weiterer Rückgang dieser Mittel würde die bestehende Fehlentwicklung erheblich beschleunigen, erklären die Mannheimer Ökonomen.

Um Forschung besser an die weltweiten Gesundheitsbedarfe anzupassen, fordern die Studienautoren stärkere internationale Zusammenarbeit, eine offene Wissenschaftspolitik – etwa durch Open Science und verpflichtendes Daten-Sharing – und Partnerschaften auf Augenhöhe. Nur so erreiche Wissenschaft auch jene Regionen, die bislang unterversorgt sind – aber besonders stark betroffen, sind sich die Autoren der aktuellen Studie sicher.