Transplantationsexperte fordert Runderneuerung des Organspendesystems26. Februar 2018 Paolo Fornara. Foto: Fornara „Im Namen unserer Patienten“ fordert der Transplantationsmediziner Prof. Paolo Fornara, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Urologie (DGU) in der Amtsperiode 2017/2018, Systemkorrekturen bei der Organspende in vielen Bereichen. Um die deutsche Transplantationsmedizin ist es in Fornaras Augen schlecht bestellt: Mit 9,7 postmortalen Organspenden pro einer Million Einwohner belegt Deutschland im Vergleich der Mitgliedsländer von Eurotransplant die Schlussposition. Europäische Länder wie Großbritannien, Frankreich und Italien, die nicht Mitglied bei Eurotransplant sind, verzeichnen etwa drei Mal so viele Spender wie Deutschland. „International rangieren wir mit unserem vermeintlich besten Gesundheitssystem der Welt nur auf Platz 30 hinter dem Iran und vor Rumänien“, stellt Fornara ernüchtert fest. Als DGU-Präsident steht er einem transplantierenden Fachgebiet vor. Die bundesweit 797 Organspenden im Jahr 2017 signalisieren für den Experten den freien Fall der deutschen Transplantationsmedizin. Für diese niedrigste Anzahl seit 20 Jahren sieht er verschiedene Ursachen und fordert tiefgreifende Veränderungen. „Die jetzige Situation ist im Namen unserer Patienten nicht länger hinnehmbar“, sagt Fornara, Mitglied der Ständigen Kommission Organtransplantation sowie der Prüfungs- und Überwachungskommission der Bundesärztekammer. Für die Misere macht er nicht eine oft angeprangerte mangelnde Bereitschaft zur Organspende in der Bevölkerung verantwortlich. Tatsächlich hatte eine bundesweite Repräsentativbefragung der Bundesanstalt für gesundheitliche Aufklärung Mitte 2017 ergeben, dass 58 Prozent der Befragten sich für Organ- und Gewebespenden entschieden und dies auch Familie oder Freunden mitgeteilt hätten. Nach der Umfrage stehen 81 Prozent der Bevölkerung der Organ- und Gewebespende positiv gegenüber. Entscheidungslösung ist bloß Informationslösung Vielmehr fehle hierzulande eine Methodik, nach der jeder volljährige Bundesbürger zu Lebzeiten faktisch dokumentiert, was nach dem Tod mit seinen Organen geschehen soll. Dürfen sie als Spenderorgane zur Transplantation entnommen werden oder nicht? Zu dieser Frage wird in Deutschland seit fünf Jahren die sogenannte Entscheidungslösung praktiziert. „Die ist aber de facto nur eine Informationslösung. Das Infomaterial wird von allen Krankenkassen, die zugleich auch Kostenträger der Transplantationsmedizin sind, unkoordiniert und nach eigenem Gutdünken an ihre Versicherten versendet. Ob die ausführlichen Informationen aber ungelesen im Papierkorb landen oder ob sie zu einer klaren Entscheidung führen, bleibt unbekannt. Alles ist freiwillig, nichts wird erfasst“, kritisiert Fornara. Die sogenannte Entscheidungslösung, vielfach als gesundheitspolitischer Schnellschuss im Gefolge des Organspendenskandals von 2012 gerügt, hält der DGU-Präsident für einen Systemfehler. Weltweit setze nur Deutschland auf diese Variante. Angesichts der miserablen Zahlen zur Organspende hierzulande regt der Transplantationsmediziner an, endlich ernsthaft über einen Wechsel zur Widerspruchslösung nachzudenken, auf die ein Großteil der westeuropäischen Länder schon lange setzt. Jüngst haben auch die Niederlande die Widerspruchslösung per Gesetz verankert: Dort ist ab 2020 jeder volljährige Staatsbürger automatisch ein potenzieller Organspender, solange er nicht ausdrücklich und aktiv widerspricht. Das Prinzip der Widerspruchslösung ist einfach: Auch hier wird jeder angeschrieben und nach seiner Entscheidung gefragt. Wer nicht antwortet, gilt jedoch als Organspender. Dieser Status kann aber jederzeit geändert werden. Selbst im tief katholischen Spanien gilt diese Lösung. Dort wurden 2017 mit 46,9 postmortalen Spendern pro einer Million Einwohner rund fünf Mal mehr Spender als in Deutschland verzeichnet. Ein großer Vorteil der Widerspruchslösung ist nach Ansicht des DGU-Präsidenten, dass den Angehörigen die Entscheidungslast genommen wird, was der Verstorbene selbst gewollt hätte. Mit der Widerspruchslösung schafft jeder zu Lebzeiten klare Verhältnisse. „Erfahrungen besagen, dass etwa 40 Prozent der möglichen Organspenden abgelehnt werden, weil die Hinterbliebenen nicht wissen, wie sich ihr verstorbener Angehöriger entschieden hätte“, so Prof. Fornara. Gleichwohl werden auch bei der Widerspruchslösung nicht automatisch Organe entnommen. Zunächst wird mit den Angehörigen gesprochen. Das Gespräch hat zwar eine andere Grundlage, respektiert jedoch deren Willen. Diskussion über Herztoddiagnostik Zur Verbesserung des hiesigen Transplantationsgeschehens will Fornara auch einen Tabubruch wagen und fordert eine seriöse Diskussion zur Herztoddiagnostik. In Deutschland ist eine Organentnahme nur erlaubt, wenn zwei Ärzte unabhängig voneinander den Hirntod eines Patienten festgestellt haben. Bei herztoten Menschen wäre das nach deutschem Transplantationsgesetz illegal. Bei den Nachbarn in Österreich, der Schweiz, Belgien und den Niederlanden, aber auch in Spanien und weiteren Ländern ist die Diagnose des Herztods dagegen als Bedingung für die Organentnahme seit Jahren akzeptiert. Wenn dort nach allen Reanimationsversuchen das EKG zehn Minuten lang nur eine Null-Linie anzeigt, gilt der Patient als tot. „Selbst wenn es zwischen diesen Ländern und Deutschland tatsächlich fundamentale medizinische, ethische oder rechtliche Unterschiede geben sollte, dann dürfen wir die Herztoddiagnostik pauschal nicht einfach ablehnen, sondern müssen konstruktiv darüber diskutieren“, so der Direktor der Universitätsklinik und Poliklinik für Urologie Halle. Rahmenbedingungen an den Krankenhäusern verbessern Zur weiteren Systemkorrektur sieht der DGU-Präsident eine neue Regierung in der Pflicht, für angemessene Rahmenbedingungen in den Spenderkrankenhäusern zu sorgen – logistisch, personell und finanziell. In vielen der gut 1200 deutschen Entnahmekliniken sei Organspende weiterhin ein zusätzliches und fakultatives Sonderereignis, das mit hohen Kosten und der Bindung intensivmedizinischer Kapazitäten einhergehe. Bis zur Organentnahme müsse der Verstorbene weiter versorgt werden, um seine Organe am Leben zu halten. Selbst die Transplantationsbeauftragten in den Kliniken, die mögliche Organspender erkennen sollen, müssten ihre Aufgaben vielfach zusätzlich erledigen. Bislang werden sie dafür nur in Bayern verbindlich und klar definiert von anderen Tätigkeiten freigestellt. Bei Rahmenbedingungen, die den Kliniken nicht zumindest Kostenneutralität böten, sei es wenig überraschend, wenn längst nicht jeder potenzielle Organspender gemeldet werde, so der DGU-Präsident. Die Zahl der Meldungen, die an die Deutsche Stiftung Organtransplantation (DSO) geht, wird seit 2013 geringer. Unzumutbare Wartezeiten Angesichts des Mangels an Spenderorganen hierzulande ist die Wartezeit für Empfänger lang, was sich wiederum negativ auf das Transplantat auswirkt. Laut einer Studie (Collaborative Transplant Study, CTS) ist die fünfjährige Überlebensrate einer transplantierten Niere in Deutschland sieben Prozent niedriger als im internationalen Mittel. Im Nierentransplantationszentrum des Landes Sachsen-Anhalt, das Fornara an der Uniklinik Halle leitet, wartet mehr als die Hälfte aller Patienten sechs oder mehr Jahre auf ein Spenderorgan, eine Patientin steht sogar seit über 13 Jahren auf der Warteliste. Diese langen Wartezeiten hält der Transplantationsmediziner für untragbar. Sie setzten nicht nur Kriterien der Organzuteilung außer Kraft, indem letztlich die Wartezeit höheres Gewicht erhalte als medizinische Erfolgsaussichten und Dringlichkeit. Sie beeinträchtigten auch die Ergebnisse von Nierentransplantationen, die schlechter werden, je länger der Patient an der Dialyse bleiben muss. Gleichermaßen inakzeptabel ist für Fornara, dass rund jedes zehnte Nierentransplantat aufgrund unterfinanzierter und ungeregelter Nachsorge verloren geht. Auch hier sieht er Politik und Kostenträger in der Pflicht, maßgeschneiderte Lösungen zu ermöglichen. Organspende braucht mehr Anerkennung „Organspende, und nicht zuletzt die Nierenlebendspende, braucht die gesellschaftliche Anerkennung und Würdigung, die ihr zusteht“, sagt Fornara. Um den freien Fall der deutschen Transplantationsmedizin zu stoppen, hält er tiefgreifende, notfalls auch unbequeme Reformen für unabdingbar. Dazu bedürfe es jedoch eines ehrlichen gesundheitspolitischen Willens. Kleinere Schönheitsreparaturen und auch Schuldzuweisungen genügten nicht, um die Systemfehler bei der Organspende zu beheben. „Wir müssen aufhören zu klagen und eine sachliche und tabufreie Diskussion in der Gesellschaft über das gesamte System der Organspende zulassen“, so der DGU-Präsident. Nur so könne man den Patienten gerecht werden und endlich längst überfällige Maßnahmen ergreifen, um den Anschluss an internationale Standards nicht vollends zu verlieren. Nierentransplantation und Nierenlebendspende sind Teil des wissenschaftlichen Programms des 70. DGU-Kongresses vom 26. bis 29. September 2018 in der Messe Dresden unter der Leitung von DGU-Präsident Fornara. (DGU/ms)
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