Visual Thinking Strategies: Mit Kunst die ärztliche Wahrnehmung schulen

Die Methode „Visual Thinking Strategies“ verbessert internationalen Studien zufolge die diagnostische Genauigkeit, die Ausdrucksfähigkeit und das Einfühlungsvermögen von Medizinstudierenden nachhaltig. Symbolbild.©Pixel-Shot-stock.adobe.com

In diesem Wintersemester setzt die Medizinische Fakultät der Universität Augsburg erstmals die international etablierte Methode „Visual Thinking Strategies“ (VTS) in der Lehre ein.

Ziel von VTS ist es, die professionelle Wahrnehmung, das kritische Denken und die Kommunikationsfähigkeit von Medizinstudierenden mittels Kunstbetrachtung gezielt zu fördern. Die Universität ist nach eigenen Angaben eine der ersten in Deutschland, die diese Methode in der Medizinausbildung anwendet.

Kognitive, soziale und kommunikative Kompetenzen schulen

Wie genau beobachten wir? Welche Schlüsse ziehen wir aus dem Gesehenen? Und wie verständigen wir uns darüber im Team? Diese Fragen stehen im Zentrum der VTS-Methode.

Entwickelt wurde sie in den 1980er-Jahren von der Psychologin Abigail Housen und dem Museumspädagogen Philip Yenawine am Museum of Modern Art in New York. Durch die gemeinsame, strukturierte Betrachtung von Kunstwerken sollen kognitive, soziale und kommunikative Kompetenzen geschult werden.

Jetzt kommt die Methode erstmals an die Medizinische Fakultät Augsburg. „VTS bietet eine eindrucksvolle Möglichkeit, klinische Beobachtungsfähigkeit, Empathie und Teamkommunikation zu fördern. Das sind Fähigkeiten, die für die ärztliche Praxis wesentlich sind“, klärt Studiendekan Prof. Thomas Rotthoff auf, der das Projekt leitet.

Im Seminarraum betrachten die Studierenden gemeinsam projizierte Kunstwerke und diskutieren sie anhand von drei moderierten Leitfragen:

„Was ist auf diesem Bild zu beobachten?“

„Was veranlasst Dich zu dieser Aussage?“

„Was können wir sonst noch entdecken?“

So können differenzierte Beobachtung, die Suche nach Evidenz, aktives Zuhören und die Wertschätzung unterschiedlicher Perspektiven gezielt trainiert werden.

VTS macht einfühlsamer und präziser

Internationale Studien zeigen, dass VTS die diagnostische Genauigkeit, die Ausdrucksfähigkeit und das Einfühlungsvermögen von Medizinstudierenden nachhaltig verbessert. „Durch den bewussten Umgang mit Mehrdeutigkeit und der Vielfalt von Wahrnehmungen lernen angehende Ärztinnen und Ärzte, Unsicherheit auszuhalten und ihre Beobachtungen klar und respektvoll zu kommunizieren“, erklärt Rotthoff.

Mit der Einführung von VTS möchte die Medizinische Fakultät Augsburg einen zentralen Aspekt ihres Modellstudiengangs stärken: die Verbindung von wissenschaftlicher Exzellenz, Reflexion und menschlicher Kompetenz in der Medizin.

Von Harvard nach Augsburg

Rotthoff absolvierte von September 2024 bis Februar 2025 selbst einen VTS-Kurs an der Harvard Medical School. „Die Methode ist in den USA bereits fester Bestandteil vieler medizinischer Curricula und in der ärztlichen Weiterbildung. Meines Wissens wird sie bislang an keiner anderen deutschen Fakultät eingesetzt“, so Rotthoff. „Umso mehr freut es mich, dass wir in Augsburg diesen innovativen Ansatz erproben.“

Neben dem Einsatz im Studium soll VTS zudem Eingang in die didaktischen Fortbildungen für Lehrende der Fakultät finden – insbesondere in Workshops zum Thema Unterricht am Patienten.

Kunst betrachten als Wahrnehmungsschule

Seit dem Wintersemester 2025/26 ist VTS in „Maturitas“ eingebettet. „Maturitas“ ist ein semesterübergreifendes Lehrkonzept, das Studierende auf ihrem Weg zu beruflicher Identität, Verantwortung und Reife als zukünftige Ärztinnen und Ärzte begleiten soll.

Im 3. Semester steht es unter dem Titel „Professionelle Wahrnehmung“. Es soll die Studierenden dabei unterstützen, klinische Situationen und Befunde aufmerksam zu beobachten, ihre Wahrnehmungen bewusst zu reflektieren und ihre Beobachtungskompetenz systematisch weiterzuentwickeln.