Visuelle Wahrnehmung bei Autismus: Unterschiede in einer pfefferkorngroßen Gehirnstruktur entdeckt

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Neurowissenschaftler der Technischen Universität (TU) Dresden haben erstmals direkte Hinweise darauf gefunden, dass Autismus mit einer veränderten Verarbeitung von Sehinformation in einer kleinen, entscheidenden Struktur im Gehirn verbunden ist: dem magnozellulären lateralen Kniehöcker.

Autismus beinhaltet Unterschiede in der Kommunikation, in der Interaktion mit anderen Menschen und in der Wahrnehmung. Traditionell konzentrieren sich wissenschaftliche Theorien über Autismus vor allem auf Aspekte der Kommunikation und Interaktion. Eine aktuelle neurowissenschaftliche Studie der TU Dresden rückt nun jedoch die Wahrnehmung in den Fokus. Erstmals konnten Forscher Unterschiede zwischen autistischen und nichtautistischen Menschen beobachten, die den magnozellulären lateralen Kniehöcker (mLGN für engl. magnocellular lateral geniculate nucleus) betreffen. Der mLGN trägt Sehinformation vom Auge zur Großhirnrinde.

Durch den Einsatz hochauflösender funktioneller Magnetresonanztomographie (7T-fMRI) erfasste das TUD-Forschungsteam um Neurowissenschaftlerin Katharina von Kriegstein die Aktivität des mLGN mithilfe des BOLD-Effekts (Blood-Oxygenation-Level-Dependent). So konnten die BOLD-Signale im mLGN analysiert und die Unterschiede zwischen autistischen und nichtautistischen Erwachsenen herausgearbeitet werden. Die Ergebnisse zeigen: Autistische Teilnehmer wiesen eine reduzierte Aktivität speziell im mLGN auf, nicht aber in anderen Bereichen des lateralen Kniehöckers. Diese Entdeckung wurde in der Fachzeitschrift „Proceedings of the National Academy of Sciences“ (PNAS) veröffentlicht.

Der mLGN ist unter anderem auf die Wahrnehmung von Bewegungen spezialisiert. Bewegungen spielen auch bei der sozialen Interaktion und Kommunikation eine Rolle, wie zum Beispiel bei dem Wahrnehmen von Gesichtsbewegungen beim Lachen oder Sprechen. Veränderungen im mLGN könnten also eine Grundlage für die Besonderheiten der sozialen Interaktion oder Kommunikation bei Autismus sein.

„Es ist faszinierend, wie schnell und mühelos unser Gehirn Sehinformationen verarbeitet. Viele dieser Sehinformationen sind dynamisch. Bei der zwischenmenschlichen Kommunikation zum Beispiel, können uns die Gesichtsbewegungen des Gesprächspartners etwas darüber verraten, was die Person sagt oder in welchem Gefühlszustand sie sich befindet. Die genaue Wahrnehmung dieser Information ist ein wichtiger Bestandteil sozialer Interaktion“, erklärt Dr. Schelinski, Erstautorin der Studie. „Der mLGN ist winzig, vergleichbar mit der Größe eines Pfefferkorns, und liegt tief im Gehirn, was die Untersuchung technisch herausfordernd macht. In unserer Studie konnten wir die technischen Herausforderungen überwinden und liefern erstmals direkte Hinweise für Unterschiede in der Funktion des mLGN bei Autismus. Damit eröffnen sich neue Perspektiven für die Autismus-Forschung, aber auch in anderen Forschungsbereichen, wie beispielsweise Schizophrenie und Legasthenie, die mit ähnlichen Wahrnehmungsbesonderheiten einhergehen können.“

Mit einem besseren Verständnis der Rolle des mLGN könnten diese Erkenntnisse die Grundlage für neue Diagnostik legen und das Verständnis für die Wahrnehmungsunterschiede verbessern, die für Autismus charakteristisch sind.