Wachsendes Knochengewebe: „Form ist Funktion”13. September 2019 L: Phasenkontrastbilder eines auf einer Kapillarbrücke gewachsenen Gewebes. R: Mit fluoreszierendem Marker eingefärbtes Skelett der Zellen, um sie mit Lichtblattmikroskopie in 3D sichtbar zu machen. Foto: Max-Planck-Institut für Kolloid- und Grenzflächenforschung/Sebastian Ehrig Wachsendes Knochengewebe auf langen Zeitskalen verhält sich wie eine viskose Flüssigkeit und nimmt dadurch Formen mit minimaler Oberfläche an. Dieses Verhalten der Zellen bestimmt die Form des Gewebes, wenn es auf ein Gerüst aufwächst. Eine besondere Stärke und gleichzeitig faszinierende Eigenschaft lebender Systeme ist ihre Anpassungsfähigkeit an sich verändernde Umweltbedingungen. Diese Fähigkeit besitzt auch der menschliche Knochen. Dieser wird laufend durch An- und Abbau kleiner Knochenpakete erneuert. Dieser Umbauprozess wird nach mechanischen Prinzipien über einen Regelkreis kontrolliert. Dadurch besitzt Knochen die Fähigkeit sich ändernden mechanischen Anforderungen anzupassen. Als Reaktion auf veränderte mechanische Belastungen, etwa durch regelmäßige Sportaktivitäten, ändert der Knochen seine Struktur und passt seine innere Form an. Unter welchen Bedingungen sich Knochengewebe bestmöglich züchten lässt, hat John Dunlop, ehemaliger Arbeitsgruppenleiter am Potsdamer Max-Planck-Institut für Kolloid- und Grenzflächenforschung und jetzt Professor für Biophysik an der Universität Salzburg mit seinem Team untersucht. Biologische Strukturen werden von Zellen erzeugt, die viel kleiner sind als die entstehende Form. Die Zellen sind sogar dazu in der Lage die Krümmung einer Oberfläche zu ertasten, die viel größer ist als sie selbst. Doch wie gelingt es den Zellen, komplexe makroskopische Formen zu erzeugen oder bei der Knochenheilung die ursprüngliche Form wiederherzustellen? „Eine partielle Antwort auf diese Frage könnte die Erkenntnis aus dieser Arbeit sein, dass Zellen Oberflächenenergie für die Formbildung nutzen, auf ähnliche Weise wie komplexe Gebilde auf Grund der Oberflächenenergie aus Seifenblasen entstehen können.“ sagt Peter Fratzl, Direktor am Potsdamer Max-Planck-Institut und Koautor der Studie, an der auch Forscher von der Berliner Charité, aus Würzburg, aus Dresden und von der Montanuniversität Leoben beteiligt waren. Formen mit konstanter mittlerer Krümmung Die Forscher konnten zeigen, dass Gewebe, welches auf gekrümmten Oberflächen wuchs, Formen mit Außengrenzen konstanter mittlerer Krümmung entwickelte. Diese ähneln sehr stark Formen von Flüssigkeitstropfen, die eine minimale Oberfläche annehmen. Als Substrate für das Zell- und Gewebewachstum dienten gekrümmte Oberflächen aus Kunststoff, die Sebastian Ehrig während seiner Doktorarbeit herstellte. Dabei wurde ein flüssiges Polymer verwendet, das sich bei hohen Temperaturen verfestigt und mit dem Substrat mit unterschiedlichen Geometrien hergestellt wurde, auf denen die Zellen wachsen und neues Gewebe bilden konnten. Die Menge des gebildeten Gewebes hing dabei von der Form des Substrats ab. Dabei fiel auf, dass auf stark konkaven Oberflächen mehr Gewebe gebildet wurde, was auf einen mechanisch induzierten biologischen Rückkopplungsmechanismus hinweist. Durch Hemmung der Zellkontraktilität konnte nachgewiesen werden, dass aktive Zellkräfte notwendig sind, um ausreichende Oberflächenspannungen für das flüssigkeitsähnliche Verhalten und das Wachstum des Gewebes zu erzeugen. „Dies legt nahe, dass die mechanische Signalübertragung zwischen Zellen und ihrer physischen Umgebung zusammen mit der kontinuierlichen Reorganisation von Zellen und Matrix ein Schlüsselprinzip für die Entstehung der Gewebeform ist.“ unterstreicht Sebastian Ehrig, Erstautor und ehemaliger Doktorand am MPI für Kolloid- und Grenzflächenforschung, der jetzt am Max-Delbrück Center in Berlin forscht. Chirale Strukturen Mithilfe der Lichtblattmikroskopie konnten Einblicke in die räumliche Gewebestruktur gewonnen werden, wobei eine weitere bemerkenswerte Entdeckung gemacht wurde: Die Zellen ordneten sich zu ausgedehnten chiralen Strukturen an, die sich spiralförmig um die Kapillarbrücken schlängelten. Ähnliche Strukturen findet man auch in Osteonen, die kleinste Funktionseinheit des Knochens. Ein Osteon entsteht, indem sich Osteoblasten konzentrisch in 4-20 Schichten um ein Blutgefäß lagern, einmauern und zu Lamellenknochen werden. Die hier vorgelegte Publikation legt nahe, dass flüssigkeitsähnliches Gewebeverhalten ein Schlüsselprinzip für die Entstehung von Formen in biologischen Systemen ist. Dies könnte weitreichende Konsequenzen haben im Hinblick auf das Verständnis von Heilungsprozessen und der Organentwicklung und auch für medizinische Anwendungen wie der Entwicklung von Implantaten relevant sein.
Mehr erfahren zu: "Appell an den Bundestag: Die chirurgische Versorgung der Jüngsten sichern!" Appell an den Bundestag: Die chirurgische Versorgung der Jüngsten sichern! In der Debatte um die Krankenhausreform fordert die Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendchirurgie (DGKJCH) erneut die langfristige Sicherung der kinder- und jugendchirurgischen Versorgung in Deutschland.
Mehr erfahren zu: "Dokumentation von Arzt-Patient-Gesprächen mittels Künstlicher Intelligenz: Hilfreich, aber es gibt auch Bedenken" Dokumentation von Arzt-Patient-Gesprächen mittels Künstlicher Intelligenz: Hilfreich, aber es gibt auch Bedenken Was halten Patienten davon, dass Künstliche Intelligenz Gespräche mit ihrem Behandler transkribiert und entsprechende Informationen dann in der elektronischen Patientenakte landen? Manche machen sich wegen der Sicherheit der Daten Sorgen.
Mehr erfahren zu: "Jüngere Generationen liegen beim Faktenwissen zu Organspende vorn" Jüngere Generationen liegen beim Faktenwissen zu Organspende vorn Eine aktuelle repräsentative Befragung zeigt: Jüngere Generationen sind besser über das Thema Organspende informiert. Der nun veröffentlichte Abschlussbericht offenbart Wissenslücken und ermöglicht tiefergehende Analysen.