Warum wir auch in Bewegung eine stabile Welt sehen

Stimmen visuelle Information und Kopfbewegung nicht exakt überein, kann längeres Tragen einer VR-Brille zu Übelkeit führen. (Foto: © Brian Jackson – Fotolia.com)

Tübinger Neurowissenschaftler erforschen das Zusammenspiel von visueller Wahrnehmung und Kopfbewegungen mittels funktioneller Magnetresonanztomographie.


Unsere Umwelt erscheint uns auch dann stabil, wenn wir uns in ihr bewegen. Das liegt daran, dass unser Gehirn einen ständigen Abgleich der Sinne vornimmt: So werden visuelle Reize mit dem Gleichgewichtssinn, der relativen Stellung von Kopf zu Körper oder der Rückmeldung von ausgeführten Bewegungen in Einklang gebracht. Die Folge: Auch wenn wir gehen oder rennen, schwankt unsere Wahrnehmung der Welt nicht. Anders ist das aber, wenn visuelle Reize und die Wahrnehmung der eigenen Bewegung nicht zusammenpassen.

Diese Erfahrung hat vielleicht schon gemacht, wer einmal mit einer Virtual-Reality-Brille in fremde Welten eingetaucht ist. VR-Brillen erfassen zwar kontinuierlich die Kopfbewegung des Trägers, und der Computer passt die visuelle Darbietung entsprechend an. Dennoch führt längeres Tragen der Brillen bei vielen Anwendern zu Übelkeit: Selbst moderne VR-Systeme haben derzeit noch Probleme, visuelle Information und Kopfbewegung mit der nötigen Präzision in Einklang zu bringen.

Bisher versteht die Neurowissenschaft die Mechanismen, die im Gehirn visuelle Wahrnehmung und Bewegung harmonisieren, allerdings noch nicht wirklich. Insbesondere nicht invasive Bildgebungsstudien am Menschen, etwa durch funktionelle Magnetresonanztomographie (fMRT), haben das Problem, dass Bilder nur vom ruhenden Kopf aufgenommen werden können.

Mit einer ausgeklügelten Apparatur ist den Tübinger Neurowissenschaftlern Andreas Schindler und Andreas Bartels nun dennoch das Kunststück gelungen, per fMRT zu beobachten, was im Gehirn geschieht, während wir den Kopf bewegen und dabei zusammenpassende bzw. sich widersprechende Bewegungs- und visuelle Reize wahrnehmen. Dazu setzten sie ihren Probanden eine VR-Brille auf und legten sie in einen modifizierten fMRT-Scanner. Computergesteuerte Luftkissen sorgten dafür, dass der Kopf der Probanden nach einer Bewegung blitzschnell fixiert wurde. Während der Kopfbewegung wurden die auf die VR-Brille projizierten Bilder entweder an die Bewegung angepasst, sodass der Eindruck einer stabilen virtuellen Umwelt entstand. Oder die VR-Brille zeigte Bilder, die mit der Kopfbewegung in Konflikt standen. Sobald die Luftkissen den Kopf wieder stabilisiert hatten, wurde das fMRT-Signal aufgezeichnet.

Schindler erklärt die Vorgehensweise so: „Beim Signal, das man mit fMRT misst, handelt es sich nicht um Aktionspotenziale an Neuronen. Vielmehr macht fMRT den Blutfluss und Sauerstoffverbrauch im Gehirn sichtbar, und zwar mit einer Verzögerung von einigen Sekunden. Eigentlich gilt das oft als Nachteil der fMRT. Aber den Moment, in dem das Gehirn der Probanden damit beschäftigt war, Kopfbewegung und VR-Bild in Einklang zu bringen, den konnten wir per fMRT noch Sekunden später aufzeichnen. Da lag der Kopf der Probanden aber schon wieder ruhig auf den Luftkissen. Kopfbewegung und Bildgebung gehen normalerweise nicht zusammen, aber wir haben das System sozusagen ausgetrickst.“

Die Forscher konnten so erstmals am gesunden menschlichen Gehirn beobachten, was zuvor nur in Affenversuchen und indirekt an Patienten untersucht werden konnte. Ihr Ergebnis: Ein Areal im posterioren insularen Kortex wies immer dann höhere Aktivierung auf, wenn VR-Brille und Kopfbewegung dem Probanden eine stabile Umwelt vorgaukelten, nicht aber, wenn beide Signale in Konflikt zueinander standen. Dasselbe traf auch auf eine Reihe weiterer Gehirnareale zu, die eine spezielle Rolle in der Verarbeitung von visueller Information bei Eigenbewegung spielen.

Der Forschung eröffnen sich nun neue Wege, das neuronale Zusammenspiel von Bewegung und visueller Wahrnehmung wesentlich zielgenauer untersuchen zu können. Obendrein zeigen die Ergebnisse der Tübinger Forscher erstmals, was im Gehirn passiert, wenn wir in virtuelle Welten eintauchen und den schmalen Grat zwischen Eintauchen und Übelkeit betreten.

Originalpublikation:
Schindler A et al.: NeuroImage 2018;172:597–607.