Was bringt die Rückenmarkstimulation gegen chronische Schmerzen?16. Januar 2023 Bild: ©SciePro/stock.adobe.com Die interventionelle Methode der Rückenmarkstimulation (spinal cord stimulation, SCS) erfreut sich wachsender Beliebtheit zur Behandlung diverser chronischer Schmerzzustände. Klare Evidenz zur Wirksamkeit der Therapie fehlt bislang jedoch. Zwei neue Studien im Fachmagazin „JAMA“ bzw. „JAMA Neurology“ lassen vermuten, dass die schmerzlindernde Wirkung überschätzt wird. Bei der SCS wird Schmerzpatienten ein Impulsgenerator implantiert. Damit verbundene Elektroden reichen in den Epiduralraum und stimulieren über einen zugeführten leichten elektrischen Strom das hintere Rückenmark, was zur Schmerzlinderung beitragen soll. Im Vergleich zu einer Placebo-Stimulation scheint dies bei Patienten mit chronischen Schmerzen nach fehlgeschlagener Bandscheibenoperation jedoch zu keinem signifikanten Unterschied bei der rückenschmerzbezogenen Behinderung zu führen, wie Wissenschaftler aus Norwegen in einer randomisierten klinischen Crossover-Studie zeigen. Rückenschmerzbezogene Behinderung im Vergleich mit Placebo-Stimulation Die Durchführung der Studie erfolgte am St. Olavs Universitätskrankenhaus in Trondheim (Norwegen), wobei 50 Studienteilnehmer (Durchschnittsalter 52,2±9,9 Jahre; 54% Frauen) zwischen September 2018 und April 2021 einen Rückenmarkstimulator implantiert bekamen. Die Patienten wurden in randomisierter Reihenfolge zwei dreimonatigen Perioden mit einer SCS und zwei dreimonatigen Perioden mit einer Placebo-Stimulation zugeteilt. Die SCS erfolgte in einem 40-Hz-Burst-Modus mit Konstantstrom und vier Spikes/Burst sowie einer Amplitude, die 50–70 Prozent der Wahrnehmungsschwelle für Parästhesien entspricht. Die rückenschmerzbezogene Behinderung beurteilten die Forscher anhand des Oswestry Disability Index (ODI). Dabei handelt es sich um einen Index bestehend aus 10 Kategorien, der aus dem Oswestry Low Back Pain Questionnaire abgeleitet wurde, welcher von Ärzten und Forschern verwendet wird, um die Behinderung bei Rückenschmerzen zu quantifizieren. Der ODI reicht von null bis 100 Punkten, entsprechend keine bis maximale Behinderung. Der primäre Studienendpunkt war der Unterschied in der Veränderung des selbstberichteten ODI zwischen den Perioden SCS und Placebo-Stimulation gegenüber dem Ausgangswert, wobei der minimale klinisch bedeutsame Unterschied zehn Punkte betrug. Kein signifikanter Unterschied Von den 50 randomisierten Patienten hatten 47 (94%) mindestens einen ODI-Follow-up-Wert und 42 (84%) beendeten alle Stimulationsperioden und ODI-Messungen. Der mittlere ODI-Wert lag zu Studienbeginn bei 44,7 Punkten und die mittleren Veränderungen des ODI-Wertes betrugen -10,6 Punkte für die SCS-Perioden und -9,3 Punkte für die Placebo-Perioden, was zu einem mittleren Unterschied zwischen den Gruppen von -1,3 Punkten führte (95%-KI -3,9 bis 1,3; p=0,32). Die sekundären Endpunkte waren Bein- und Rückenschmerzen, Lebensqualität, körperliche Aktivität und unerwünschte Ereignisse. Keiner der vordefinierten sekundären Endpunkte wies einen signifikanten Unterschied auf. Bei neun Patienten (18%) traten unerwünschte Ereignisse auf, darunter vier (8%), die eine chirurgische Revision des implantierten Systems erforderten. Langzeitergebnisse in Real-World-Kohorte In einer US-amerikanischen Studie untersuchten Forschende um Sanket S. Dhruva von der San Francisco School of Medicine (University of California) nicht die direkten klinischen Auswirkungen des SCS für die Patienten, sondern sie verwendeten als Outcome Surrogatparameter für primäre chronische Schmerzbehandlungsmodalitäten. Konkret bedeutet das, Dhruva und Kollegen ermittelten anhand von US-amerikanischen Versicherungsdaten die Verwendung von Opioiden, Schmerzinjektionen, Radiofrequenzablationen oder Wirbelsäulenoperationen 2 Jahre nach SCS-Implantation sowie die Gesamtkosten. In die Studie aufgenommen wurden Patienten mit Diagnoseschlüsseln für das Failed-back-surgery-Syndrom, das komplexe regionale Schmerzsyndrom, das chronische Schmerzsyndrom und andere chronische postoperative Rücken- und Extremitätenschmerzen. Der Vergleich erfolgte mittels 1:5-Propensity-Matching zwischen Patienten mit SCS und jenen, die eine konventionelle medikamentöse Schmerztherapie (CMM) erhalten hatten. Die Gesamtkohorte bestand aus 7560 versicherten Patienten, die im Durchschnitt 63,5±12,5 Jahre alt waren und 40,7% waren männlich. Nach zwei Jahren keine Vorteile durch SCS Unter den gematchten Patienten hatten SCS-Patienten in den ersten 12 Monaten eine höhere Wahrscheinlichkeit für einen chronischen Opioidkonsum (bereinigte Odds Ratio [aOR] 1,14; 95%-KI 1,01–1,29) im Vergleich zu Patienten, die mit CMM behandelt wurden. Die Wahrscheinlichkeit für epidurale und Facetten-Kortikosteroid-Injektionen (aOR 0,44; 95%-KI 0,39–0,51), Radiofrequenzablation (aOR 0,57; 95%-KI 0,44–0,72) und eine Wirbelsäulenoperation (aOR 0,72; 95%-KI 0,61–0,85) war jedoch geringer. Im zweiten Beobachtungsjahr konnten die Forscher für keinen dieser Endpunkte einen signifikanten Unterschiede zwischen den Gruppen feststellen. Insgesamt traten bei 226 von 1260 SCS-Patienten (17,9%) innerhalb von zwei Jahren SCS-bedingte Komplikationen auf, und bei 279 von 1260 Patienten (22,1%) wurden die Geräte revidiert und/oder entfernt, wobei dies nicht immer auf Komplikationen zurückzuführen war. Die Gesamtkosten der Behandlung waren laut Studie im ersten Jahr mit SCS um 39.000 US-Dollar höher als mit CMM und im zweiten Jahr ähnlich hoch wie bei SCS und CMM. Die beiden Schmerzmediziner Prasad Shirvalkar und Lawrence Poree – ebenfalls von der University of California – weisen in einem Editorial darauf hin, dass in der Studie von Dhruva et al. keine formale Kosten-Nutzen-Analyse durchgeführt wurde, „weshalb die Ergebnisse nicht als Argument gegen die therapeutische Wirksamkeit von SCS bei der Linderung von Symptomen oder der Verbesserung von Alltagsfunktionen gewertet werden sollten“. Gleichzeitig erkennen sie an, dass die Studie die weitverbreitete Annahme zu widerlegen scheint, die SCS könne in den Jahren unmittelbar nach der Implantation des Geräts zu einem geringeren Opioidkonsum oder insgesamt zu weniger Arztbesuchen führen. (ah)
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