Wege aus der Überlastung: Aktuelle Studie zeigt Lösungshorizonte auf

Junge Ärzte fühlen sich schlecht auf belastende Ereignisse vorbereitet. Dadurch steigt die Gefahr für einen Burn-out. (Foto: © Halfpoint – stock.adobe.com)

In „Neurological Research and Practice“ veröffentlichte Umfrageergebnisse zeigen, dass sich Ärztinnen und Ärzte in der neurologischen Weiterbildung mit belasteten Ereignissen allein gelassen fühlen. Die Folgen sind eine höhere Burn-out-Gefahr und dysfunktionale Coping-Strategien.

„Resilienz ist ein großes Thema in der Medizin. Belastende Ereignisse gehören zur ärztlichen Tätigkeit dazu, der Umgang mit ihnen kann jedoch unterschiedlich aussehen. Wir wollten untersuchen, wo – insbesondere in der Weiterbildung – belastende Ereignisse am häufigsten auftreten, was resilienzfördernde Faktoren sind und wie Strukturen verbessert werden können, um mit belastenden Ereignissen und der steigenden Arbeitsdichte erfolgreich umzugehen. Angesichts des großen Fachkräftemangels in der Medizin ist es letztlich ein gesellschaftliches Anliegen, den Arztberuf attraktiver zu machen und die Arbeitsfähigkeit von Mitarbeitenden im Gesundheitssystem möglichst lange zu erhalten“, erklärt Dr. Johannes Piel, Kiel, Sprecher der Jungen Neurologie und Erstautor der Studie.

Mit der Zahl belastender Ereignisse steigt das Burn-out-Risiko

An der Umfrage nahmen 493 Ärztinnen und Ärzte teil, 318 von ihnen in der neurologischen Weiterbildung. Von diesen berichteten 51 Prozent von mindestens monatlich vorkommenden belastenden Ereignissen, 15 Prozent sogar von wöchentlichen oder häufigeren. Höhere Burnout-Werte waren signifikant mit der Häufigkeit belastender Ereignisse (p<0,001), institutionellen Faktoren (p<0,001), der allgemeinen Jobzufriedenheit (p<0,001), steigendem Lebensalter (p=0,030), einer niedrigeren Anzahl von Kindern (p=0,046) und dem Fehlen von inhaltlichen Nachbesprechungen (sogenannten „Debriefings“) nach belastenden Ereignissen (p=0,037) assoziiert.

Am häufigsten wurden belastende Ereignisse in der Notaufnahme (85 %) und auf Intensivstationen (54 %) berichtet, gefolgt von Allgemeinstationen (46 %). Wichtigste Ursachen belastender Ereignisse waren ein hohes Patientenaufkommen, das Second-Victim-Phänomen (die psychische Belastung Behandelnder nach Schicksalsschlägen bei Patienten, den „First Victims“), eine schlechte Kommunikation mit anderen Fachabteilungen, Fehler sowie Organisationsmängel.

Wenn Freunde und Familie die einzigen Gesprächspartner sind

Was jüngere Ärztinnen und Ärzte im Rahmen der neu übernommenen Verantwortung und der Notwendigkeit, mit bleibenden Unsicherheiten umzugehen, signifikant häufiger belastete, waren Wissenslücken (p<0,001), mangelnde Fertigkeiten (p<0,01), ein hohes Patientenaufkommen (p<0,01) und (Beinahe-)Fehler (p<0,05). Ärztinnen und Ärzte in Weiterbildung gaben insgesamt eine höhere Frequenz belastender Ereignisse an als ihre erfahreneren Kollegen (p<0,001) und waren häufiger Burnout-gefährdet (p<0,001). Immerhin 26 Prozent zeigten Merkmale eines wahrscheinlichen Burnouts. Auf den Umgang mit belastenden Ereignissen seien 69 Prozent nicht vorbereitet gewesen, und nur 23 Prozent wurden während belastender Ereignisse vor Ort supervidiert. Viele der Befragten äußerten den Wunsch nach inhaltlichen Debriefings durch qualifiziertes Personal, zum Beispiel durch vertraute Vorgesetzte. Stattdessen konnten sie häufig nur mit Familien, Freunden und Peer-Gruppen über belastende Ereignisse sprechen (p<0,001).

„Die fachliche Ausbildung von Medizinerinnen und Medizinern ist in Deutschland hochanspruchsvoll, der Ärztemangel führt aber dazu, dass junge Kolleginnen und Kollegen früh in der Weiterbildung nachts oder am Wochenende zunächst mit zeitkritischen Situationen, einer immer arbeitsdichteren Umgebung und schweren Patientenschicksalen allein konfrontiert sind, meist nur mit telefonischer Rücksprachemöglichkeit. Angebote zu strukturierten Nachbesprechungen finden sich kaum, vielerorts fehlt eine offene Fehlerkultur. Dieses Problem ist ein systemisches, das über die Fächergrenzen hinausgeht und in anderen kritischen Berufen wie der Luftfahrt oder Organisationen mit Sicherheitsaufgaben so nicht vorstellbar ist“, erklärt Piel.

Belastung nicht als Schwäche auslegen

Die negativen Folgen der Überlastung in der Medizin ließen sich bereits der Umfrage entnehmen: 20 Prozent gaben Alkoholkonsum und neun Prozent die Einnahme von Medikamenten als dysfunktionale Copingstrategie an. Das zeige, wie wichtig es ist, unterstützende  Angebote und eine offene Kommunikationskultur zu etablieren. „Wir müssen eine Atmosphäre schaffen, in der das Sprechen über kritische Ereignisse und die eigene Belastung nicht mit Schwäche assoziiert wird, sondern mit dem Willen zur Weiterentwicklung und Verbesserung, auch im Sinne der Patientensicherheit.“

„Auch wenn die Studie nicht repräsentativ war, da Selektions-Bias und Selbst-Selektions-Bias nicht ausgeschlossen werden können, sehen wir einen dringenden Handlungsbedarf“, erklärt Prof. Daniela Berg, Kiel, Präsidentin der DGN und Letztautorin des Papers. „Wir brauchen mehr Ärztinnen und Ärzte und können es uns nicht leisten, dass Kolleginnen und Kollegen durch den Job krank werden.“  Wie sie weiter ausführt, können auf institutioneller Ebene durch strukturierte Einarbeitung, Angebote der Nachbesprechung und eine Umgebung, in der offen über belastende Ereignisse und Fehler gesprochen werden kann, die Resilienz gestärkt und die Burnout-Rate reduziert werden. „Als Fachgesellschaft werden wir uns dafür einsetzen, dass in neurologischen Kliniken solche Angebote etabliert werden.“

Bessere Vorbereitung schon im Studium

Doch darüber hinaus bedürfe es auch struktureller Änderungen, wie einer Reduktion unnötiger Dokumentationsaufgaben, einer stärkeren Rückbesinnung auf ärztliche Tätigkeiten, einem dem Patientenaufkommen angepassten Personalschlüssel und möglicherweise auch einer fächerübergreifenden Supervision. Bereits im Medizinstudium sollten Themen wie Second-Victim-Phänomene und Maßnahmen zur Stärkung der Resilienz behandelt werden. „Diese Themen wird die DGN im Gespräch mit den medizinischen Fakultäten adressieren und Angebote für eine studien- und berufsbegleitende Unterstützung schaffen.“