Wer profitiert von einer Kortikosteroidbehandlung bei Sepsis?

Unter Verwendung von Deep Learning identifizierten Forscher Patientenmerkmale, die in Zusammenhang mit dem Ansprechen auf eine Kortikoidbehandlung bei Sepsis stehen, (Symbolbild: ©WrightStudio/stock.adobe.com)

Forschende aus den Niederlanden entwickelten ein Deep-Learning-Modell, das individuelle Behandlungseffekte schätzt und so Patientenmerkmale aufzeigt, die mit dem Nutzen einer Kortikosteroid-Therapie bei Sepsis verbunden sind.

Die Sepsis ist nach wie vor eine der größten Herausforderungen in der Intensivmedizin. Die 30-Tage-Überlebensrate liegt in den Industrieländern für Patienten mit septischem Schock nur bei 60 bis 70 Prozent. Es gibt gute Gründe für die Verabreichung von Kortikosteroiden zur Sepsisbehandlung. Aufgrund der interindividuellen Heterogenität der Behandlungseffekte sind klinische Studien jedoch nicht eindeutig.

Um dieses Problem anzugehen, setzte ein Forschungsteam der Abteilung für Intensivmedizin des Amsterdam University Medical Centers (UMC) kausales Deep Learning ein. Ziel war, genau jene Untergruppen von Intensivpatienten mit Sepsis zu identifizieren, die von einer Kortikosteroidbehandlung profitieren – und damit Patientenmerkmale zu identifizieren, die bei der Entscheidung für oder gegen eine Kortikosteroidbehandlung behilflich sind.

Modellentwicklung auf Basis von fast 3000 Sepsispatienten

Das Team um Erstautor und Intensivmediziner Ameet Jagesar entwickelte das auf Deep Learning basierende Vorhersagemodell Treatment-Agnostic Representation Network (TARNet). Das Modell sollte patientenindividuell abschätzen, ob sich die prognostizierte 28-Tage-Mortalität bei Sepsis durch eine Behandlung mit Kortikosteroiden verbessert. Als Responder galten jene Patienten, bei denen sich die prognostizierte 28-Tage-Mortalität um mindestens zehn Prozent reduzierte.

Die Forscher trainierten das Modell unter Verwendung der AmsterdamUMCdb-Datenbank. Diese umfasste 2920 Patienten, die die Sepsis-3-Diagnosekriterien erfüllten. Davon waren 1378 mit Kortikosteroiden behandelt worden. Als Kontrollgruppe dienten 1542 Patienten ohne Kortikosteroidbehandlung.

Das Profil jedes Patienten umfasste 19 klinische Variablen, die innerhalb von 24 Stunden nach der Aufnahme erhoben wurden. Dazu gehörten Laktatwerte, pH-Wert und das Verhältnis von arteriellem Sauerstoffpartialdruck (PaO₂) zur inspiratorischen Sauerstofffraktion (FiO₂). Um die klinische Relevanz ihrer Studie sicher zu stellen, wählten die Wissenschaftler klinische Variablen, die weltweit routinemäßig auf Intensivstationen verfügbar sind. Die Variablen überschneiden sich mit denen, die in weithin anerkannten Schweregrad-Bewertungssystemen wie APACHE IV und SOFA verwendet werden.

Modell prognostiziert Therapieansprechen

Die Ergebnisse der Studie erschienen kürzlich im „Journal of Intensive Medicine“. Mit einer AUROC von 0,79 in der internen Validierung zeigte das Modell eine moderate Prognoseleistung. Begleitet wird dieses Ergebnis von einem Brier-Score von 0,14. Der Score quantifiziert den Unterschied zwischen vorhergesagten Wahrscheinlichkeiten und den tatsächlichen Ergebnissen auf einer Skala von null bis eins. Ein niedriger Wert weist dabei auf eine bessere Vorhersagegenauigkeit hin.

Um die Zuverlässigkeit und Verallgemeinerbarkeit des Modells sicherzustellen, führte das Team zusätzlich eine externe Validierung durch. Dazu verwendeten die Forscher eine Kohorte von 30.639 Sepsis-3-Patienten aus der US-amerikanischen MIMIC-IV-v2.2-Datenbank. Die externe Validierung ergab eine AUROC von 0,71 und einen Brier-Score von ebenfalls 0,14. Somit blieb die Leistung des Modells stabil, obwohl die Patienten in der MIMIC-IV-Datenbank im Allgemeinen weniger schwer erkrankt waren und niedrigere Sterblichkeitsraten aufwiesen. Das deutet auf die Verallgemeinerbarkeit auf verschiedene Populationen und klinische Settings hin.

Ferner zeigten Kalibrierungskurven eine gute Übereinstimmung zwischen den vorhergesagten und den tatsächlichen Ergebnissen. Darüber hinaus erreichte TARNet eine sehr gute Kovariatenbalance (Wasserstein-Distanz: 3,6 × 10⁻⁷ intern, 4,2 × 10⁻⁷ extern) und übertraf damit das traditionelle Propensity-Score-Matching deutlich. Laut den Autoren mindert TARNet somit effektiv Verzerrungen durch Störfaktoren und bietet eine solide Grundlage für kausale Schlussfolgerungen.

Unterscheidung zwischen Nutzen, kein Nutzen und Schaden durch Kortikoide

Die Einteilung der Patienten anhand des klinisch bedeutsamen Schwellenwerts von zehn Prozent Veränderung der vorhergesagten 28-Tage-Mortalität resultierte in der Identifikation von drei Gruppen:

  1. Responder: 245 Patienten mit einem Mortalitätsrückgang von mehr als zehn Prozent
  2. Non-Responder: 2098 Patienten
  3. geschädigte Personen: 577 Patienten mit einem Mortalitätsanstieg von mehr als zehn Prozent.

Die Analyse ergab, dass Patienten mit schwerer metabolischer Azidose (gekennzeichnet durch niedrigen pH-Wert und niedrigen Bikarbonatspiegel) und Kreislaufstörungen (erhöhte Laktat- und Kreatininwerte) am meisten von einer Kortikosteroidtherapie profitierten. Dies steht im Einklang mit dem pathophysiologischen Verständnis der Sepsis, bei der hämodynamische Instabilität ein wesentlicher Faktor für schlechte Ergebnisse ist. Patienten, die anhand dieser Parameter weniger krank waren, wiesen hingegen eher erhöhte Sterblichkeitsraten durch die Behandlung mit Kortikosteroiden auf.

Fazit

„Unsere Studie befasst sich mit einer kritischen Lücke in der aktuellen Praxis. Kausales Deep Learning ermöglicht die Abschätzung individueller Behandlungseffekte und überwindet damit die Grenzen traditioneller Studien auf Populationsebene. Dies ist die erste Anwendung des TARNet-Modells im Zusammenhang mit der Kortikosteroidtherapie bei Sepsis“, fasst Erstautor Jagesar zusammen.

Es bleibt festzuhalten, dass die Wirkung von Kortikosteroiden in der Sepsistherapie heterogen ist und genau abgewogen werden muss. Mithilfe des Deep-Learnings-Modells identifizierten die Forschenden aus Amsterdam individuelle Patientenfaktoren, die zur Entscheidung über eine Kortikoidtherapie bei der Sepsistherapie herangezogen werden können. Damit ist ein weiterer Schritt in Richtung von Präzisionsmedizin in der Sepsisbehandlung gemacht. Jedoch sollten die ermittelten Ergebnisse in weiteren Studien prospektiv beurteilt werden. Auch dient das Deep-Learning-Modell nicht zur klinischen Entscheidungsfindung, da es nicht für den unmittelbaren klinischen Einsatz validiert wurde.

(ah/BIERMANN)