Wie kann eine Präzisionsmedizin bei chronischen Entzündungen Realität werden?13. März 2024 Paneldiskussion zum Thema „Wissen und Evidenz: Kann eine Präzisionsmedizin chronischer Entzündungskrankheiten evidenzbasiert sein?“ (Foto: © A. Kahlke, Exzellenzcluster PMI/Uni Kiel) Auf einem Symposium am 7. und 8. März thematisierten Experten ethische, wirtschaftliche und wissenschaftstheoretische Fragen einer Präzisionsmedizin für chronische Entzündungserkrankungen. Immer mehr Menschen leiden an chronischen Entzündungserkrankungen, wie beispielsweise Morbus Crohn, Schuppenflechte oder Rheuma. Sie sind ein gravierendes Gesundheitsproblem für die Betroffenen und die Gesellschaft insgesamt und verursachen mittlerweile rund die Hälfte der Gesundheitskosten in Deutschland. Die Mitglieder des Exzellenzclusters „Precision Medicine in Chronic Inflammation“ (PMI) arbeiten intensiv daran, die Früherkennung, Diagnose und Therapie chronischer Entzündungserkrankungen deutlich zu verbessern. Dies möchten sie durch die Etablierung einer Präzisionsmedizin erreichen. Damit ist eine individualisierte Medizin gemeint, die klinische und molekulare Daten des Individuums auswertet und die Therapien präzise auf das Krankheitsbild einer einzelnen Person zuschneidet. Dieser wesentlich aufwendigere und auch teurere Ansatz der angestrebten Präzisionsmedizin wirft neben medizinischen Herausforderungen auch dringende gesellschaftliche, soziale und ökonomische Fragen auf. Beispielsweise zur Finanzierbarkeit, wissenschaftlichen Evidenz und Gerechtigkeit. Mit diesen beschäftigt sich der Forschungsbereich „RTF IX: Ethik, Epistemologie und Ökonomie“ im Exzellenzcluster PMI. Um den Diskurs dazu auszuweiten, brachte der Forschungsbereich vergangene Woche am 7. und 8. März Vertreter aus Wissenschaft, Gesundheitswesen, Krankenkassen, Patientenorganisationen und Politik zu einem öffentlichen Symposium in Kiel zusammen. An der Veranstaltung „Die unterschätzte Herausforderung: Chronische Entzündungserkrankungen“ nahmen rund 50 Personen vor Ort teil, weitere waren per Video zugeschaltet. In Vorträgen und Diskussionsrunden beschäftigten sich die Teilnehmenden mit folgenden Fragen: Kann eine Präzisionsmedizin chronischer Entzündungskrankheiten evidenzbasiert sein? Wie ist eine Präzisionsmedizin für Menschen mit chronischen Entzündungen finanzierbar? Kann unser Gesundheitswesen gleichen Zugang zu einer Präzisionsmedizin für alle chronisch Kranken gewährleisten? Wie können Patienten in die Entwicklung einer Präzisionsmedizin für chronische Entzündungskrankheiten einbezogen werden? Die Politikwissenschaftlerin Barbara Prainsack, Professorin am Institut für Politikwissenschaft, Universität Wien (Österreich), und Vorsitzende der European Group on Ethics in Science an New Technologies, hielt einen Keynote-Vortrag zum Thema: „Solidarität und Präzisionsmedizin: ein Widerspruch?“. Prainsack erklärte: „Ich sehe das Solidaritätsprinzip der gesetzlichen Krankenversicherung durch eine Präzisionsmedizin nicht bedroht. Schon zur Gründung der solidarischen Gesundheitssysteme war man sich darüber im Klaren, dass einige Menschen höhere Kosten verursachen würden. Das nimmt man bewusst mit in Kauf, das ändert sich auch nicht dadurch, dass nun Patientengruppen durch molekulare Kriterien eingeteilt werden.“ Die Finanzierung sei letztlich eine politische Frage und keine wissenschaftliche. „Aber andere Entwicklungen, die mit der Präzisionsmedizin verschränkt sind, wie bestimmte Formen der algorithmischen Entscheidungsunterstützung, könnten das solidarische Prinzip unterlaufen“, so Prainsack weiter. Um die Solidarität zu schützen, solle man in den Faktor Mensch und in die sogenannte sprechende Medizin investieren. „Auch Werte und Präferenzen von Patientinnen und Patienten sollten systematisch in den Entscheidungsprozess eingebracht werden“, formulierte Prainsack weiter. Dafür plädierte auch Prof. Britta Siegmund, Direktorin der Medizinischen Klinik für Gastroenterologie, Infektiologie und Rheumatologie an der Charité Berlin und Vorsitzende des Beirates der Deutschen Morbus Crohn/Colitis Ulcerosa Vereinigung e.V.: „Die Krankheitskontrolle kann von Erkrankten anders als von Ärztinnen und Ärzten wahrgenommen werden. Ärztinnen und Ärzte und Patientinnen und Patienten müssen daher gemeinsam die Ziele einer Therapie erarbeiten. Die Ziele der Patientinnen und Patienten sind genauso wichtig, oder auch wichtiger, als die der Ärztinnen und Ärzte bei der Therapie. Wir müssen die Therapie entsprechend anpassen. Und wir müssen Werkzeuge entwickeln, wie wir routinemäßig die Patientensicht in die Sprechstunde einbauen.“ „Ich freue mich, dass es uns gelungen ist bei unserem Symposium sowohl hochkarätige Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler verschiedener Disziplinen, sowie Vertreterinnen und Vertreter aus den betroffenen Bereichen – wie Krankenversicherer, Patientenorganisationen und Politik – zusammen zu bringen und das Thema erstmals in einem größeren öffentlichen Rahmen zur Diskussion zu stellen“, betont eine der Veranstalterinnen, Prof. Claudia Bozzaro, Leiterin der Arbeitsgruppe Medizinethik am Institut für Experimentelle Medizin der Medizinischen Fakultät an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel (CAU). „So konnten wir wichtige Impulse für unsere Forschung im Exzellenzcluster PMI sammeln und gleichzeitig wichtige Netzwerke zu entscheidenden Akteuren knüpfen.“ „Als interdisziplinärer Exzellenzcluster ist es uns wichtig – in Ergänzung zu unserem medizinischen und naturwissenschaftlichen Schwerpunkt – auch die ethischen, wissenschaftstheoretischen und ökonomischen Aspekte der Präzisionsmedizin in den Blick zu nehmen. Nur so kann eine Präzisionsmedizin für chronische Entzündungserkrankungen auch Realität werden“, betont PMI-Clustersprecher Prof. Stefan Schreiber. „Diese Forschungsfragen sollen auch weiterhin die Agenda unseres sonst medizinisch-geprägten Exzellenzclusters mitprägen, für deren Weiterförderung wir aktuell den Folgeantrag vorbereiten.“ Der Antrag für eine weitere Förderung in der Exzellenzstrategie von Bund und Ländern wird Ende August eingereicht.
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