Wie Klang und Vibration im Gehirn zusammenkommen und die Sinneserfahrung verbessern

Neue Forschungsergebnisse zeigen, dass der Colliculus-inferior-Bereich im Gehirn eine entscheidende Rolle bei der Verarbeitung von Tönen und Berührungen in Form von mechanischen Vibrationen spielt, um ein erweitertes sensorisches Erlebnis zu schaffen. Bild: © Ginty Lab/Harvard Medical School

Warum der Verlust des Gehörs den Tastsinn schärft, zeigt eine US-amerikanische Studie: Vibrationen werden in einer bestimmten Hirnregion verarbeitet – unabhängig davon, ob es sich um Schallreize aus dem Innenohr oder mechanische Reize von der Haut handelt.

Ludwig van Beethoven begann im Alter von 28 Jahren sein Gehör zu verlieren und mit 44 Jahren war er taub. Warum er sein Gehör verlor, ist nach wie vor Gegenstand wissenschaftlicher Debatten, unbestritten ist: Trotz Schwerhörigkeit und Taubheit hat Beethoven nie aufgehört, Musik zu komponieren, wahrscheinlich weil er die Vibrationen von Musikinstrumenten spüren und Musik durch den Tastsinn „hören“ konnte, glauben Experten.

Eine Studie im Mausmodell von Forschenden der Harvard Medical School könnte nun erklären, warum Beethoven und andere Musiker nach dem Verlust ihres Gehörs einen äußerst feinen Tastsinn entwickeln konnten. Die Ergebnisse bringen neuen Hinweis darauf, wie und warum die Verringerung eines Sinnes den anderen verstärkt und erweitern das Verständnis darüber, wie Gehirn und Körper synchron arbeiten, um mehrere Sinneswahrnehmungen gleichzeitig zu verarbeiten.

Die Forschungsergebnisse weisen darauf hin, dass der Colliculus inferior – dieser Bereich im Gehirn wurde bisher vor allem für seine Rolle bei der Schallverarbeitung untersucht – auch an der Verarbeitung von Berührungssignalen beteiligt ist, einschließlich mechanischer Vibrationen, die von Nervenenden auf der Haut wahrgenommen werden.

Die Experimente des Teams um Hauptautor David Ginty von der Harvard Medical School (USA) konnten zeigen, dass hochfrequente mechanische Vibrationen, die von hochempfindlichen Mechanorezeptoren in der Haut, den Pacinischen Korpuskeln, aufgenommen werden, nicht ausschließlich in den somatosensorischen Kortex geleitet werden. Stattdessen werden diese Signale hauptsächlich vom Körper zum Colliculus inferior im Mittelhirn geleitet.

„Dies ist ein sehr überraschender Befund, der die herkömmliche Auffassung darüber, wo und wie taktile Empfindungen im Gehirn verarbeitet werden, widerlegt“, betonte Ginty. „Wir haben herausgefunden, dass eine Region im Colliculus inferior des Mittelhirns Vibrationen verarbeitet, egal ob es sich um Vibrationen in Form von Schallwellen handelt, die auf das Innenohr einwirken, oder um mechanische Vibrationen, die auf die Haut einwirken. Wenn akustische und mechanische Vibrationssignale in dieser Hirnregion zusammenlaufen, verstärken sie die sensorische Erfahrung und machen sie markanter“, erläuterte Ginty zentrale Ergebnisse der Studie.

Die Fähigkeit, Schwingungen zu erkennen, ermöglicht es Organismen im gesamten Tierreich, subtile Veränderungen in ihrer Umgebung wahrzunehmen und darauf zu reagieren. Die Wahrnehmung von Vibrationen, ist auch von zentraler Bedeutung für die Entwicklung und Verfeinerung komplexerer Anpassungen, wie z. B. die neuronale Neuverdrahtung des Gehirns, die nach dem Verlust eines Sinnes auftritt, um einen anderen zu verbessern – etwa wenn sich nach Verlust des Sehvermögens ein schärferes Gehör entwickelt.

Den Forschern zufolge sind die neuen Erkenntnisse mit Blick auf die neuronale Neuverdrahtung nach dem Verlust eines Sinnes besonders relevant. Diese Erkenntnisse könnten zur Entwicklung von Prothesen führen, die die taktile Sensibilität bei Menschen mit Hörverlust verbessern. „Geräte, die Töne in taktile Vibrationen im Pacinischen Frequenzbereich umwandeln, könnten Menschen eine größere Fähigkeit zur Wahrnehmung und zum Erleben von Tönen vermitteln“, so Ginty, der auch am Howard Hughes Medical Institute forscht. „Solche Geräte könnten um den Körper herum und in unmittelbarer Nähe der Pacini-Körperchen platziert werden, um schallinduzierte mechanische Vibrationen verschiedener Frequenzen an Händen, Armen, Füßen, Beinen und am Körper zu ermöglichen.“

Die aktuelle Studie baut auf früheren Arbeiten auf und untersucht, wie die Signale der Pacini-Körperchen im Gehirn übertragen und verarbeitet werden. Die Forscher versetzten die Gliedmaßen von Mäusen oder die Plattform, auf der sie standen, mit Hilfe eines mechanischen Stimulators in mechanische Schwingungen mit unterschiedlichen Frequenzen. Gleichzeitig zeichneten sie die Aktivität von Neuronen in Gehirnregionen auf, die an der sensorischen Verarbeitung beteiligt sind.

Beim Vergleich der Reaktionen von Neuronen in zwei verschiedenen Hirnregionen, stellten die Gintys Team fest, dass Neuronen im ventralen posterolateralen Nucleus des Thalamus (VPL) empfindlicher auf niederfrequente Vibrationen reagierten. Im Gegensatz dazu reagierten die Neuronen im lateralen Kortex des inferioren Colliculus bevorzugt auf hochfrequente Vibrationen.

Um zu untersuchen, welche Rolle zwei Arten von Mechanorezeptoren in der Haut – die Pacini-Körperchen und die Meissner-Körperchen – für die unterschiedlichen Reaktionen der beiden Gehirnregionen auf hoch- und niederfrequente Vibrationen spielen, untersuchte das Team genetisch veränderte Mäuse, denen entweder die Pacini-Körperchen oder die Meissner-Körperchen fehlen.

Bei Mäusen ohne Pacini-Körperchen reagierten die Neuronen im Colliculus inferior deutlich weniger auf hochfrequente Vibrationen. Das deutet nach Ansicht der Autoren darauf hin, dass die Pacini-Körperchen eine Schlüsselrolle bei der Weiterleitung hochfrequenter Vibrationen an diesen Bereich spielen.

Als die Forschenden die Mäuse weißem Rauschen anstelle von mechanischen Vibrationen aussetzten, stellten sie fest, dass auch Neuronen im unteren Collikulus reagierten. Dahr geht das Team davon aus, dass diese Region sowohl auditive als auch somatosensorische Reize verarbeitet. „Tatsächlich haben wir beobachtet, dass die Neuronen im Colliculus inferior stärker auf kombinierte taktil-auditive Reize reagierten als auf einen der beiden Reize allein“, erläutert Ginty. Diese Integration von Klang und Tastsinn im Colliculus inferior des Mittelhirns erklärt laut Ginty, warum wir bei einem Konzert die Musik nicht nur hören, sondern auch körperlich spüren können, was die kombinierte Sinneserfahrung noch intensiver macht.

Nach Einschätzung der Autoren unterstreichen die Ergebnisse die Rolle der Pacini-Körperchen als wichtige Komponente des somatosensorischen Systems. Jedes Pacini-Körperchen besteht aus einem einzigen Nervenende in seinem Zentrum, das Lamellenzellen umgeben ist. Die zwiebelartigen Schichten der Lamellenmembranen wirken wie Stoßdämpfer und ermöglichen es den Pacini-Körperchen, präzise und schnell auf hochfrequente Vibrationen zu reagieren, während niederfrequente Störungen gedämpft werden.

„Die Evolution hat diese Rezeptoren im gesamten Tierreich an verschiedenen Stellen platziert, um sie an unterschiedliche Umgebungen anzupassen“, so die Hauptautorin der Studie, Erica Huey, wissenschaftliche Mitarbeiterin im Ginty-Labor. „Beim Menschen befinden sich diese Rezeptoren tief in der Haut der Fingerspitzen und Füße, während Elefanten beispielsweise eine hohe Konzentration in ihren Füßen und Rüsseln haben“, Huey weiter.

In der Tat haben Forschungen gezeigt, dass Elefanten in der Lage sind, winzige seismische Vibrationen über ihre Fußsohlen und die Haut ihres Rüssels wahrzunehmen. Bis vor kurzem war es den jedoch nicht möglich, die Aktivität der Pacini-Körperchen bei einem wachen, sich frei bewegenden Tier aufzuzeichnen. Das macht es schwierig nachzuvollziehen, wie empfindlich diese Neuronen wirklich sind und welche Reize ihre Aktivierung auslösen.

Frühere Forschungsarbeiten unter der Leitung von Josef Turecek, einem Postdoktoranden im Ginty-Labor, konnten zeigen, dass Pacini-Körperchen so empfindlich sind, dass sie mechanische Vibrationen, die so subtil sind wie die Bewegung eines Fingers auf einer Oberfläche, sogar aus mehreren Metern Entfernung wahrnehmen können.

In zukünftigen Studien wollen die Forscher auch untersuchen, ob diese Erkenntnisse ein Hinweis auf die Anpassungsfähigkeit des Gehirns sind, insbesondere ob Organismen eine erhöhte Empfindlichkeit für Vibrationen als Kompensationsmechanismus bei Hörverlust entwickeln.