Wie sich das Gehirn das Sehen beibringt29. November 2021 Spontane Aktivität bewirkt den Aufbau neuronaler Schaltkreise und die Reifung der synaptischen Konnektivität während der Gehirnentwicklung. Illustration: Max-Planck-Institut für Hirnforschung / E. Morozova Ein Computermodell gibt Aufschluss darüber, wie spontane neuronale Aktivität die Konnektivität in der Entwicklung des visuellen Systems formt. Selbst ohne vorherige Erfahrungen besitzt das neugeborene Gehirn die bemerkenswerte Fähigkeit, auf seine Umgebung zu reagieren und koordinierte Leistungen zu erbringen. Nager-Jungtiere öffnen ihre Augen erst im Alter von zwei Wochen, die neuronalen Schaltkreise in der Sehbahn des Tiergehirns fangen jedoch schon viel früher an sich zu vernetzen. Bevor sich die Augen öffnen, durchlaufen die Netzwerke im Gehirn eine umfangreiche Organisation, Abstimmung und Koordination, die durch leistungsstarke Entwicklungsmechanismen gesteuert wird. Abseits des externen Stimulus durch die Augen erzeugen andere Quellen neuronale Aktivität, um den Verbindungsaufbau von Neuronen zu steuern. Ein internationales Team von Wissenschaftlern unter der Leitung von Julijana Gjorgjieva, Forschungsgruppenleiterin am Max-Planck-Institut (MPI) für Hirnforschung, Frankfurt, beschreibt zwei Quellen spontaner neuronaler Aktivität. Diese spielen in der Entwicklung des visuellen Systems von Mäusen eine entscheidende Rolle.Die Netzhaut ist die innerste, lichtempfindliche Gewebeschicht des Auges und die erste Region, die Lichtimpulse verarbeitet. “Vor dem Öffnen der Augen erzeugen bestimmte Neuronen in der Netzhaut, die sogenannten retinalen Ganglienzellen, spontane Aktivität, die über den Thalamus an den visuellen Kortex weitergeleitet wird”, erklärt Gjorgjieva. “Das Labor unseres Kollaborators Christian Lohmann (Netherlands Institute for Neuroscience in Amsterdam) hat herausgefunden, dass Neuronen im visuellen Kortex ebenfalls spontan aktiv sind. Ihre Aktivität ist jedoch von anderen Eigenschaften gekennzeichnet. Von der Retina ausgehende Aktivität breitet sich lokal im Kortex aus und nur wenige kortikale Neuronen werden aktiviert, während sich kortex-gesteuerte Aktivität global ausbreitet und damit viele kortikale Neuronen aktiviert werden”, fügt Gjorgjieva hinzu.Um zu verstehen, wie diese lokalen und globalen spontanen Aktivitäten das in der Entwicklung befindliche visuelle System vernetzen, entwarfen Gjorgjieva und ihr Team ein rechnerisches Netzwerkmodell. “In unserem Modell stellen thalamische Neuronen zunächst schwache und unpräzise synaptische Verbindungen zu kortikalen Neuronen her, wie im unreifen visuellen System. Die beiden Arten spontaner Aktivität (lokal und global) reorganisieren und verstärken diese Verbindungen selektiv”, sagt Marina Wosniack, die als Postdoc die Arbeit leitete. Plastizität ist die Fähigkeit von synaptischen Verbindungen, sich im Laufe der Zeit zu verstärken oder abzuschwächen. Verbindungen werden gestärkt, wenn Neuronen häufig gemeinsam aktiviert werden, ein Mechanismus, der als Hebb’sche Plastizität bekannt ist. Basierend auf der Hebb’schen Plastizität stärkt die gemeinsame Aktivierung von thalamischen und kortikalen Neuronen während lokaler spontaner Aktivität die Synapsen zwischen ihnen. “Wir fanden heraus, dass die globale spontane Aktivität perfekt geeignet ist, die Stärke und Aktivität der synaptischen Verbindungen zu regulieren”, erklärt Wosniack.Anhand ihres Modells schlagen die Wissenschaftler vor, dass sich die im Netzwerk erzeugte globale spontane Aktivität an das Niveau der laufenden Aktivität anpasst. Interessanterweise hätten die experimentell gewonnenen Daten der Mitarbeitenden diese Vorhersage unterstützt, sagt Gjorgjieva. Neben der Erzeugung einer angemessen verfeinerten Konnektivität, wie sie während der Entwicklung beobachtet wird, erlaubt das neue Modell Vorhersagen über die sich verändernde Natur der Aktivitätsmuster im sich entwickelnden Gehirn. “Unsere Ergebnisse stimmen mit dem Verlauf der spontanen Aktivität im sensorischen Kortex von sich entwickelnden Tieren überein. Sie illustrieren sehr schön die Leistungsfähigkeit von Computermodellen, mit denen sowohl bestehende als auch neue Hypothesen über die Entstehung von Gehirnfunktionen erforscht werden können”, so Gjorgjieva.
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