Zu früh für die Regelversorgung: Transkranielle Pulsstimulation bei Alzheimer7. Oktober 2022 Die Alzheimer-Krankheit ist trotz intensiver Forschung bislang unheilbar. (Foto: © Robert Kneschke – stock.adobe.com) Menschen mit Alzheimer wird die Transkranielle Pulsstimulation (TPS) als neue, scheinbar „bahnbrechende“ kostenpflichtige Therapiemethode angepriesen. Die Deutsche Gesellschaft für Klinische Neurophysiologie und Funktionelle Bildgebung hat die Datenlage nun bewertet und kommt zu dem Schluss: Es erscheint verfrüht, die TPS als effektive Therapieform der Alzheimer-Erkrankung zu bewerben. Forscher der Universitätsklinik für Neurologie in Wien haben gemeinsam mit der Firma Storz Medical AG die Transkranielle Pulsstimulation (TPS) entwickelt. Die neue Therapie, die bereits umfangreich öffentlich beworben wird, soll die Regeneration des Gehirns stimulieren. Den Entwicklern zufolge ist es damit „weltweit erstmalig möglich, mit einem Ultraschall-Puls direkt am Schädelknochen, nichtinvasiv, schmerzfrei und bei vollem Bewusstsein in alle Bereiche des Gehirns vorzudringen und dort ganz gezielt Hirnareale anzusteuern und diese zu aktivieren“. Im deutschsprachigen Raum gibt es laut der Deutschen Gesellschaft für Klinische Neurophysiologie und Funktionelle Bildgebung (DGKN) bereits mehr als 42 Behandlungsstandorte, 33 davon in Deutschland. Studien zu klinischen Effekten der TPS im Jahr 2019 publiziert Die Transkranielle Pulsstimulation (TPS) ist eine gepulste ultraschallbasierte Methode zur nichtinvasiven Stimulation des Gehirns. Eine spezielle Ultraschallsonde emittiert sehr kurze (30 µs) Ultraschallpulse mit einer typischen Frequenz von 5 Hz. Dem TPS-Konzept liegt eine mehr als zehnjährige Forschungstätigkeit der Arbeitsgruppe um Prof. Roland Beisteiner von der Universitätsklinik für Neurologie und Psychiatrie der Medizinischen Universität Wien zugrunde. Seit 2019 wurden die Forschungsdaten zur TPS in sechs wissenschaftlichen Publikationen veröffentlicht. THS gegen kognitive Defizite und den Verlust von Nervenzellen? Vier dieser Studien beruhen der DGKN zufolge auf Untersuchungen an ein und derselben kleinen Kohorte aus 35 ProbandInnen mit wahrscheinlicher Alzheimer-Erkrankung. Diesen wurde die TPS über zwei bis vier Wochen (3 Sitzungen pro Woche, 6000 Pulse/Sitzung, Stimulation von individuell festgelegten Regionen des „Alzheimer-Netzwerks“ inklusive des dorsolateralen präfrontalen Kortex und des Default Mode Netzwerks) appliziert.1 In der Folge konnten die Wissenschaftler signifikante positive Wirkungen auf neurokognitive Leistungen beobachten, die über drei Wochen stabil anhielten. Gemessen wurden diese mit einer standardisierten neuropsychologischen Testbatterie zur Erfassung kognitiver Defizite bei Alzheimer-Patienten (CERAD, Consortium to Establish a Registry for Alzheimer’s Disease, korrigierter Gesamtscore). Allerdings wurden neben positiven Effekten in den kognitiven Domänen „Gedächtnis“ und „verbale Funktionen“ auch negative Effekte auf visuo-konstruktive Leistungen beobachtet, wie die Fachgesellschaft berichtet. Drei weitere Publikationen der Arbeitsgruppe beziehen sich auf Sekundäranalysen von Daten dieser Primärstudie.2,3 Kritik am Studiendesign: Dünne Studienlage und unklare Wirkung Trotz interessanter Ergebnisse: Zahlreiche Kritiker, darunter die Selbsthilfeorganisation Deutsche Alzheimer Gesellschaft und Wissenschaftler unterschiedlicher Universitäten, zweifeln an der Aussagekraft der Studien und an der (Langzeit-)Wirkung der neuen Therapie. Auch die DGKN sieht die neue Methode auf Basis der aktuellen Datenlage kritisch: So gebe es nur eine einzige Pilotstudie, die bislang zum Thema therapeutische Wirkung von TPS auf Patienten mit Alzheimer-Erkrankung publiziert wurde1, kritisiert die DGKN. Diese basiere auf einer kleinen Probanden-Gruppe und sei nicht kontrolliert. “Somit kann zum aktuellen Zeitpunkt schlichtweg nicht ausgeschlossen werden, dass es sich bei den beobachteten Wirkungen um Placeboeffekte handelte. Alle bisher publizierten Untersuchungen kommen zudem von derselben Arbeitsgruppe”, heißt es von Seiten der Fachgesellschaft. Im Zeitalter evidenzbasierter Medizin seien außerdem auch für medizintechnische Therapien multizentrische, randomisierte, kontrollierte doppelt-verblindete Phase-II/III-Studien mit einem signifikanten Ergebnis für den primären Wirksamkeitsendpunkt zu fordern, erklärte die DGKN. Zudem seien die biologischen und neurophysiologischen Wirkungen der Methode bislang nur rudimentär untersucht, mit Ausnahme einiger präklinischer Daten an Ratten sowie der oben genannten fMRT-Daten und einer Studie zu somatosensorisch evozierten Potenzialen bei Gesunden. Und nicht zuletzt seien die Patienten lediglich für drei Monate nachbeobachtet worden, sodass die bei voranschreitenden neurodegenerativen Erkrankungen wichtige Frage nach der Dauer der beobachteten Therapieeffekte nicht adressiert wurde, kritisierte die Fachgesellschaft. Prof. Ulf Ziemann, Ärztlicher Direktor der Abteilung Neurologie und Co-Direktor am Hertie-Institut für klinische Hirnforschung der Universität Tübingen, fasst das Fazit und die Bewertung der DGKN wie folgt zusammen: „Sieht man sich die publizierten Studien im Detail an, so gibt es derzeit definitiv noch keine ausreichende Evidenz für die Wirksamkeit der neuen Methode. Für einen Wirksamkeitsnachweis der neuen Therapie sind placebokontrollierte, randomisierte verblindete Studien mit höherer Patientenzahl und längerer Nachbeobachtungszeit erforderlich. Es ist daher aktuell nicht gerechtfertigt, TPS als neue effektive Therapieform der Alzheimer-Erkrankung oder anderer Erkrankungen des Gehirns anzusehen und zu bewerben.“
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