Ärztinnen und Ärzte leiden unter der Pandemie

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Erste Ergebnisse einer Online-Befragung unter 1476 Ärztinnen und Ärzten in Deutschland zeigt: Die COVID-19-Pandemie hat gravierende Auswirkungen auf Medizinerinnen und Mediziner und deren Tätigkeit. 

Die seit fast zwei Jahren anhaltende COVID‐19-Pandemie bedeutet für Ärztinnen und Ärzte eine bisher einzigartige Belastungssituation verbunden mit großen physischen und psychischen Herausforderungen. Wie beeinflusst die COVID-19-Pandemie das ärztliche Handeln? Der Kardiologe Prof. Andreas Goette, St. Vincenz‐Krankenhaus Paderborn, und der Psychosomatiker Prof. Karl-Heinz Ladwig, Technische Universität München, haben dazu in Kooperation mit dem Kompetenznetz Vorhofflimmern e.V. (AFNET) und der Ärztekammer Westfalen-Lippe eine Online-Befragung durchgeführt. An dieser nahmen 1476 ärztliche Mitglieder der Ärztekammer Westfalen‐Lippe im Zeitraum vom 16.11. bis 31.12.2021 teil. Die Befragten sind etwa zur Hälfte Krankenhaus- und zur Hälfte niedergelassene Ärztinnen und Ärzte. Sie arbeiten in Kliniken und Praxen der Fachgebiete Allgemeinmedizin, Innere Medizin, Chirurgie, Gynäkologie sowie Kinder- und Jugendheilkunde. Die meisten von ihnen haben bereits mehr als zehn Jahre Berufserfahrung.

In der anonymisierten Online‐Befragung äußerten die Teilnehmenden ihre persönliche Einschätzung zu Fragen wie: Wie erleben Ärztinnen und Ärzte ihr eigenes Handeln in der Pandemie? Wie gehen sie mit den besonderen Herausforderungen um? Zudem beantworteten sie Fragen zu ihrer Lebenssituation, zu den von ihnen behandelten Patientinnen und Patienten sowie zu den Belastungen, denen sie selbst ausgesetzt waren.

„Im vorigen Jahr wurde immer häufiger von überlasteten und erschöpften Ärztinnen und Ärzten berichtet. Wir wollten das Problem mit wissenschaftlichen Methoden untersuchen. Deshalb haben wir uns entschlossen, diese systematische Studie durchzuführen“, erklärt Studienleiter Goette. Das Kompetenznetz Vorhofflimmern e.V., dessen Vorstand Goette angehört, hat dabei Aufgaben des Projektmanagements übernommen.

Die Mehrheit (84 Prozent) der Befragten hatte selbst Menschen mit einer COVID-19-Erkrankung behandelt. Nach Aussage der Studienteilnehmenden ging dies mit großen Einschränkungen im Arbeitsalltag einher. Rund drei Viertel fühlten sich in ihrer Arbeit beeinträchtigt und berichteten, die akute Behandlung von Nicht-COVID-19-Patientinnen und -Patienten sei eingeschränkt, wobei 52 Prozent „etwas eingeschränkt“ angaben, 29 Prozent „stark eingeschränkt“. Nach Einschätzung der befragten Ärztinnen und Ärzte konnte in etwa einem Drittel der Fälle die Würde der Patientinnen und Patienten nicht gewahrt werden. 43 Prozent fühlten sich durch externe Vorgaben in ihrem ärztlichen Handeln behindert.

Die besonderen Belastungen während der Pandemie hatten schwerwiegende Konsequenzen: Rund 60 Prozent der befragten Ärztinnen und Ärzte fühlten sich hilflos. Mehr als die Hälfte litt an Schlafstörungen und über drei Viertel berichteten über Erschöpfungssymptome und sogenannte „Mitgefühlsmüdigkeit“ (compassion fatigue) in der ärztlichen Arbeit. Klinische Anzeichen einer Depression zeigten sich bei 12 Prozent der Befragten und Anzeichen einer Angststörung bei weiteren 12 Prozent. Nach dieser ersten Datenauswertung sind die Beeinträchtigungen bei ärztlichem Personal in Krankenhäusern ausgeprägter als bei Niedergelassenen.

Dem Psychosomatiker Ladwig zufolge zeigen die ersten Ergebnisse der Studie deutlich, dass die Pandemie und insbesondere die Behandlung von COVID-19-Erkrankten gravierende Folgen für die ärztliche Arbeit hat. „Sogar die Würde der Patientinnen und Patienten kann in vielen Fällen nicht mehr respektiert werden. Dadurch wird das ärztliche Handeln in seinen ethischen Grundzügen in Frage gestellt. Und wie wir sehen, gehen die extremen Belastungen auch an erfahrenen Medizinerinnen und Medizinern nicht spurlos vorüber, sondern führen zu schwer beherrschbarem psychosozialem Stress. Verbreitete Hilflosigkeit bei Ärztinnen und Ärzten, einer Berufsgruppe, die es eigentlich gewohnt ist, Situationen zu beherrschen und zu meistern, ist alarmierend.“

Die wissenschaftliche Publikation der Studie ist zurzeit in Vorbereitung. Anhand spezieller Datenauswertungen sollen beispielsweise folgende Fragen beantwortet werden: Wie unterscheiden sich die Auswirkungen der Pandemie bei Klinikärztinnen und -ärzten und Niedergelassenen? Wie wirkt sich die Berufserfahrung aus? Gibt es beim Einfluss der Pandemie auf das ärztliche Handeln geschlechtsspezifische Unterschiede?