„Der Fehler liegt im System“: Sichtweisen auf Eminenz und Evidenz zur Orthopädie und Unfallchirurgie auf dem VSOU-Kongress4. Mai 2019 Stefan Sauerland stellte die Position des IQWiG vor (Foto: Biermann Medizin, hr). Gesundheitspolitik ist komplex – nicht minder ihre Auswirkungen auf Mediziner und Patienten. Die Unzufriedenheit mit dem derzeitigen System wurde in der Session „Eminenz versus Evidenz“ auf dem VSOU-Kongresses aus diversen Blickwinkeln der – beziehungsweise für – Orthopäden und Unfallchirurgen beleuchtet. „Der Fehler liegt im System“, waren sich alle einig. Aber wo genau dieser liegt, dazu gab es verschiedenene Ansichten. Bereits der erste Vortrag von Prof. Jan-Dirk Rompe vom Orthomedicum Alzey, der über existenzbedrohende Fehlentwicklungen am Beispiel des subakrominalen Schmerzsyndroms berichtete, lief auf die Systemfrage hinaus. Sowohl für operative als auch nicht operative Therapien gebe es gute Evidenzen. Dies spiegelt sich auch in Rompes Überzeugung wider, dass es sich dabei „um komplementäre und nicht um konkurriernde Verfahren handelt“. Nur erlaubten es die derzeitigen Vergütungsstrukturen niedergelassenen Orthopäden eben nicht das zu tun, was gerade ihre Stärke sein kann: die konservative Therapie. Der Alltag sieht für den Niedergelassenen anders aus: „Da kümmere ich mich nur noch um „Red-flags“ und betreibe Katastrophenverhinderungsmedizin“, so Rompe. Es läuft nicht gut für O&U „Es läuft nicht gut für O&U“, befand auch Dr. Jan Holger Holtschmit von den Marienhauskliniken Wadern-Losheim. Er zeigte in seinem Vortrag existenzbedrohende Versorgungs- und Strukturmängel in O&U am Beispiel der konservativen Versorgung von Rückenschmerzpatienten auf. Mit rund 1930 Euro erhalte man dafür „zu wenig, um damit in der Klinik viel ausrichten zu können“. Da lohne beispielsweise eine operative Spondylodesen-Versorgung mit einer zigfach höheren Vergütung weit mehr. Aus eigener Erfahrung wusste er zu berichten, dass multimodale Konzepte ein Ausweg sein können, um bessere Vergütungen mit konservativer Therapie zu erzielen. Diese erforderten aber auch einen hohen interdisziplinären Personaleinsatz in den Kliniken. Die in Leitlinien vorgeschlagene ambulante Versorgung scheitere einfach oft an den fehlenden Strukturen und: Längst konkurrieren auch andere Fachdiziplinen um die Rückenschmerzpatienten wie Allgemeinmediziner, Radiologen oder Physiotherapeuten, konstatierte Holtschmit weiter. Dass es für O&U schlecht läuft belegte er auch mit einer Umfrage des BVOU unter Orthopäden und Unfallchirurgen, der zufolge diese nur noch eine geringe Selbsteinschätzung ihrer konservativen Fähigkeiten haben und gleichzeitig ein hohes Interesse an konservativer Fortbildung bekunden. „Konservativen Orthopäden geht der Nachwuchs aus“, stellte er fest. Jüngere Kollegen, die aus operativen Zentren in seine Klinik kommen „können es nicht mehr“. Ein konservativs Problem: nicht abrechenbar Dr. Wolfgang Schaden, von der Allgemeinen Unfallversicherungsanstalt (AUVA) in Wien, verglich operative und nicht operative Unfallbehandlungen. Für Österreich sei schon in den Ausbildungsrichtlinien für O&U ein Missverhältnis zwischen konservativ und operativ manifest. Während konservativ 150 Fälle nötig seien – wie oft davon lediglich „eingipsen“ ausreiche sei dahingestellt – seien operativ 275 Fälle erforderlich. Studien belegten zudem, dass operative gegenüber konservativen Therapien für Patienten keinen Vorteile erbringen, zum Beispiel bei der distalen Radiusfraktur bei über 60-Jährigen, oder aber der Therapie des instabilen Sprunggelenkes. Als weiteres Beispiel nannte er die extrakorporale Stoßwellentherapie (ESWT) bei Pseudarthrosen, die nicht nur zu vergleichbaren Ergebnissen mit weniger schwerwiegenden Komplikationen und rascherer Rehabilitation, sondern auch zu signifikant geringeren Kosten führten. Er rechnete vor, dass die ESWT bei allen geeigneten Pseudarthrosepatienten jährlich Einsparungen von 66 Prozent (>66 Mio €) gegenüber operativen Therapien erwarten lässt. Das Problem allein dabei: Die wenigsten Patienten kommen in den Genuss der Therapie, da sie nicht abrechenbar ist. Von nicht abrechenbarer Therapie berichtete auch der nächste Referent, Dr. Ralf Müller-Rath von der Orthopädischen Praxisklinik Neuss und erster Vorsitzender des Berufsverbandes für Arthroskopie. Er stellte die Situation arthroskopischer Operationen bei degenerativen Kniegelenkerkrankungen dar, die aufgrund fehlender Evidenz vom G-BA seit 2015 aus dem Leistungskatalog der Kassen gestrichen wurde. Wo bleiben ärztliche Erfahrung und Patientenwünsche? Müller-Rath hinterfragte das Ergebnis. „Das Problem ist, dass lediglich Level-I-Studien für solche Entscheidungen akzeptiert werden, die Erfahrungen der Ärzte und die Wünsche der Patienten werden einfach nicht berücksichtigt“, kritisierte er. Externe klinische Evidenz könne individuelle klinische Erfahrung zwar ergänzen aber niemals ersetzen, so seine Überzeugung. „Evidenzbasierte Medizin darf nicht auf randomisiert kontrollierte Studien (RCT) und Metaanalysen beschränkt werden“, so Müller-Rath weiter. Er forderte zudem eine Methodendiskussion in die Nutzenbewertung miteinzubeziehen. Arthoskopie und Operation haben laut Müller-Rath beide – zur richtigen Zeit und unter Berücksichtigung des Patientenwunsches – ihre Berechtigung. Daher setze er sich für die Entwicklung eines Stufenmodells zur konservativen und operativen Behandlung des degenerativen Kniegelenkes ein. „Nur weil RCT Fehler haben können, sollte man sich nicht in die nicht randomisierte Evidenz stürzen“, entgegnete Prof. Stefan Sauerland, Ressortleiter „Nichtmedikamentöser Verfahren“ beim Institut für Qualität und Wirtschaftlicheit im Gesundheitswesen (IQWiG), Köln. In seinem Vortrag ging er aber vorrangig der Frage nach, warum immer mehr Standard-OPs in O&U durchgeführt werden und wo der Fehler im System dafür zu suchen ist. Er stützte sich auf Daten der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD), wonach es immer noch zu viele Krankenhausbetten und eine zu hohe OP-Frequenz in Deutschland gibt. „Vielen Häusern geht es dabei nur ums Überleben“, so Sauerland. Sie seien unterfinanziert und die DRGs setzten Fehlanreize. Dass man ein strukturelles Problem habe, werde zum Beispiel auch dadurch deutlich, „dass dort, wo mehr niedergelassene Orthopäden tätig sind, weniger operiert wird“. Er plädierte dafür, dass zukünftig neue OP-Methoden nur noch – von Studien begleitet – in Zentren eingeführt werden. Auch gelte es die Mindestmengenregelungen auszuweiten. Zudem sollten die sektorenübergreifende Qualitätssicherung und Desease-Management-Programme gestärkt werden. Der Politik bescheinigte er, dass bisher „keine schnellen und einfachen Lösungen für all die Probleme erkennbar sind“. Eine bittere und irgendwie auch nicht verwundernde Erkenntnis; denn der Fehler liegt ja im System. (hr)
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