ESC2025: Neue Leitlinien zu Myokarditis und Perikarditis1. September 2025 Symbolfoto: ©MQ-Illustrations/stock.adobe.com Im Rahmen des europäischen Kardiologenkongresses (ESC2025) in Madrid wurde jüngst die erste europäische Leitlinie zur Behandlung von Myokarditis und Perikarditis präsentiert. Erstmals werden darin die beiden Erkrankungen als sich gegenseitig beeinflussende Erkrankungen betrachtet. Erarbeitet wurden die „ESC-Leitlinien 2025 zur Behandlung von Myokarditis und Perikarditis“ von einer Expertengruppe aus Kardiologen verschiedener europäischer Länder – unterstützt von Wissenschaftleren und Patientenvertreteren mit dem Ziel, besonders praxisnahe und patientenorientierte Empfehlungen zu entwickeln. Die Leitung der Task Force unterlag Prof. Jeanette Schulz-Menger von der Charité – Universitätsmedizin Berlin sowie Prof. Massimo Imazio von der Universitätsklinik Santa Maria della Misericordia (Udine, Italien). Unterstützt werden sie außerdem von der Europäischen Vereinigung für pädiatrische und angeborene Kardiologie (AEPC) und der Europäischen Vereinigung für Herz-Thorax-Chirurgie (EACTS). Maßgeschneiderte Empfehlungen – an den Patienten orientiert „Die heute vorgestellten ESC-Leitlinien enthalten zahlreiche Neuerungen, die für eine europaweit einheitliche und innovative Behandlung von Patient:innen mit Myokarditis und Perikarditis enorm wichtig sind. Gemeinsam haben wir maßgeschneiderte, patientenorientierte Empfehlungen entwickelt, die den Weg zu einer personalisierten und modernen Versorgung von Herzmuskel- und Herzbeutelerkrankungen ebnen. Damit schaffen wir eine praxisnahe Orientierungshilfe für Ärztinnen und Ärzte sowie die Basis für eine sichere und gezielte Versorgung der Patient:innen“, sagt Schulz-Menger anlässlich der Veröffentlichung der Leitlinien am 29. August. Die Kardiologin leitet die mit dem Deutschen Herzzentrum der Charité (DHZC) assoziierte Hochschulambulanz für Kardiologie am Charité-Campus Buch. Am Experimental Clinical Research Center – einer Einrichtung der Charité und des Max Delbrück Center (MDC) – leitet sie die Arbeitsgruppe für Kardiovaskuläre MRT. An der Erstellung der Guidelines waren auch Prof. Bettina Heidecker, Oberärztin für Herzinsuffizienz und Kardiomyopathien an der DHZC-Klinik für Kardiologie, Angiologie und Intensivmedizin am Campus Benjamin Franklin, sowie Dr. Jan Gröschel (DHZC-Klinik für Kardiologie, Angiologie und Intensivmedizin am Charité Campus Mitte) als Taskforce-Koordinator beteiligt. Neu: Inflammatorisches Myoperikardialsyndrom Die neuen Guidelines sind die ersten ESC-Leitlinien zu Myokarditis und ersetzen die bisherigen Empfehlungen der ESC zu Perikarditis, die aus den Jahren 2013 und 2015 stammen. Sie enthalten Algorithmen und benutzerfreundliche Flussdiagramme, die medizinisches Fachpersonal dabei unterstützen sollen, Myokarditis und Perikarditis besser zu erkennen, zu diagnostizieren und zu behandeln, um die klinischen Ergebnisse zu verbessern. Ferner setzen sie auf personalisierte Empfehlungen für die Rückkehr an den Arbeitsplatz und für sportliche Aktivitäten. Mit dem neu eingeführten Begriff „inflammatorisches Myoperikardialsyndrom“ (inflammatory myopericardial syndrome, IMPS) weisen die Leitlinien auf die mögliche Überschneidung zwischen Myokarditis und Perikarditis hin. IMPS soll als Sammeldiagnose verwendet werden, bis eine spezifischere Diagnose gestellt werden kann. Der neue Begriff wird nach Ansicht der ESC dazu beitragen, das Bewusstsein für das Spektrum der Erkrankung zu schärfen und eine zeitnahe Diagnose und bessere Behandlung zu ermöglichen, um die Behandlungsergebnisse für die Patienten zu verbessern. Die Leitlinie im Überblick Die neuen Guidelines setzen auf symptomgesteuerte Behandlungspfade für Patienten, die erstmals mit Beschwerden in die Klinik kommen. Ein Patient mit Brustschmerzen sollte beispielsweise nach einem anderen Schema behandelt werden als jemand mit Herzrhythmusstörungen oder Herzschwäche. Dies soll Ärzten helfen, schneller die richtige Diagnose zu stellen und die passende Therapie einzuleiten. Genetische Faktoren und Fehlsteuerungen des Immunsystems werden explizit berücksichtigt. Treten die Entzündungen wiederholt auf oder gibt es bereits Krankheitsfälle in der Familie, wird etwa eine genetische Abklärung empfohlen. Dieser Trend zur personalisierten Medizin geht auf die individuellen Ursachen der Erkrankung ein. In den Leitlinien werden „Red Flags“ definiert, um die Erkrankung als solche überhaupt wahrzunehmen, aber auch um lebensbedrohliche Komplikationen frühzeitig erkennen und individuell behandeln zu können. Dazu zählen etwa schwere Herzrhythmusstörungen, eine schwere Herzinsuffizienz oder ein großer Erguss um das Herz. Patienten mit diesen Symptomen sollen besonders engmaschig überwacht und sofort in einem Spezialzentrum behandelt werden. In der Diagnostik legen die Leitlinien einen Schwerpunkt auf die Bedeutung der Kardio-Magnetresonanztomographie (Kardio-MRT). Diese ermöglicht eine sehr genaue, nicht invasive Beurteilung von Herzmuskel- und Herzbeutelentzündungen und kann so helfen, die Erkrankung unkompliziert, schnell und sicher zu erkennen – vergleichbar mit der Aussagekraft einer Biopsie. Dies stellt einen Paradigmenwechsel dar, der sich unabhängig von den Europäischen Guidelines auch in den US-amerikanischen Leitlinien vom American College of Cardiology und der American Heart Association so wiederfindet. Bei der Nachsorge setzten die Guidelines auf maßgeschneiderte Empfehlungen, wann Sport und Arbeiten wieder möglich sind. Bisher geltende allgemeine Sportverbote werden nicht empfohlen – entscheidend ist die individuelle Situation der Patienten. Die Leitlinien umfassen auch Einschätzungen zu neuen Medikamenten und zum Einsatz von Defibrillatoren oder mechanischen Kreislaufunterstützungssystemen bei komplexen Krankheitsfällen. Interdisziplinäre Zusammenarbeit erforderlich „Besonders wichtig: Die Behandlung von Herzmuskel- und Herzbeutelentzündungen kann nur gemeinsam in einem interdisziplinären Team gelingen“, sagt Schulz-Menger. Neben Kardiologen sollten fallspezifisch Spezialisten aus den Bereichen Bildgebung, Elektrophysiologie, Infektionskrankheiten, Genetik, Rheumatologie, Immunologie, Pathologie oder Chirurgie eingebunden werden. „Die Patientinnen und Patienten sollten außerdem von Beginn an beteiligt werden und mit über die Therapieschritte entscheiden können. Das hilft, Ängste abzubauen und Vertrauen in den Behandlungsprozess zu schaffen“, so die Charité-Kardiologin. Co-Leiter Imazio geht davon aus, dass die neuen Leitlinien einen Paradigmenwechsel in der Patientenversorgung ermöglichen und die Entwicklung von kombiniertem Fachwissen in der Diagnose und Therapie von Myokarditis und Perikarditis fördern. „Dies wird auch einen multidisziplinären Teamansatz für schwierigere Fälle unterstützen“, meint Imazio. Weiter sind die Experten davon überzeugt, dass die Empfehlungen den Patienten helfen werden, schneller zu ihrem normalen Leben zurückzukehren – einschließlich der Wiederaufnahme von sportlichen Aktivitäten und der Rückkehr an den Arbeitsplatz. „Dies wird ihre Lebensqualität verbessern, ihre Genesung beschleunigen und die Zahl der Krankheitstage am Arbeitsplatz reduzieren“, resümiert Imazio. Weiterer Forschungsbedarf Obwohl das medizinische Wissen über IMPS zugenommen hat, weisen die Leitlinien auch auf erhebliche Evidenzlücken hin. Sie identifizieren einen Bedarf an weiteren groß angelegten prospektiven multizentrischen Studien mit vordefinierten Endpunkten. Neue Forschungsarbeiten sind insbesondere erforderlich, um zu verstehen, wie Patienten mit chronischen Erkrankungen und bestimmte Patientengruppen wie Kinder, Frauen im gebärfähigen Alter, Schwangere und Stillende sowie ältere Menschen am besten behandelt werden können. Man hoffe, so Imazio, dass die identifizierten Evidenzlücken von der Forschungsgemeinschaft und den Geldgebern dringend geschlossen werden können. (ah/BIERMANN)
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