Frühe Unterschiede im Gehirn könnten geschlechtsspezifische Risiken für Sucht erklären

Bereits im Kindesalter lassen sich im Gehirn von Jungen und Mädchen unterschiedliche Mechanismen für ein Suchtrisiko feststellen. (Foto: © Christos Georghiou – stock.adobe.com)

Die Wurzeln für eine Sucht zeigen sich bereits lange vor Beginn des Substanzkonsums in der Funktionsweise junger Gehirne. So haben Forschenden bei Kindern mit einer familiären Vorgeschichte von Substanzmissbrauch (SUD) unterschiedliche Muster der Gehirnaktivität nachgewiesen. Diese unterscheiden sich bei Jungen und Mädchen.

Die Studie, die in „Nature Mental Health“ veröffentlicht wurde, analysierte Gehirnscans von fast 1900 Kindern im Alter von neun bis elf Jahren, die an der Studie „Adolescent Brain Cognitive Development (ABCD)“ der National Institutes of Health teilnahmen.

„Diese Ergebnisse könnten helfen zu erklären, warum Jungen und Mädchen oft unterschiedliche Wege in Richtung Substanzkonsum und Sucht einschlagen“, erklärte die leitende Autorin Dr. Amy Kuceyeski von der Weill Cornell Medicine in New York (USA). „Das Verständnis dieser Wege könnte letztendlich dazu beitragen, die Prävention und Behandlung für jede Gruppe individuell anzupassen.“

Verfolgung neuronaler Energieverschiebungen

Um diese neuronalen Unterschiede zu untersuchen, verwendeten die Forscher einen rechnergestützten Ansatz namens „Netzwerkkontrolltheorie“. Dieser erlaubte es ihnen zu messen, wie das Gehirn während der Ruhephase zwischen verschiedenen Aktivitätsmustern wechselt. „Wenn Sie in einem MRT-Scanner liegen, ist Ihr Gehirn nicht untätig, sondern durchläuft wiederkehrende Aktivierungsmuster“, erklärte Erstautorin Louisa Schilling, Doktorandin am Computational Connectomics Laboratory der Weill Cornell Medical School. „Mit der Netzwerkkontrolltheorie können wir berechnen, wie viel Energie das Gehirn aufwendet, um zwischen diesen Mustern zu wechseln.“ Diese Übergangsenergie zeigt die Flexibilität des Gehirns oder seine Fähigkeit, von inneren, selbstreflexiven Gedanken zu einer externen Fokussierung zu wechseln.

Störungen in diesem Prozess wurden den Forschenden zufolge bei Menschen mit starkem Alkoholkonsum und Kokainabhängigkeit sowie unter dem Einfluss von Psychedelika beobachtet.

Mädchen können sich schwerer von negativen Zuständen lösen

Die Studie ergab, dass Mädchen mit einer familiären Vorgeschichte von SUD eine höhere Übergangsenergie im Default-Mode-Netzwerk des Gehirns aufweisen, das mit Introspektion in Verbindung gebracht wird. Im Vergleich zu Mädchen ohne eine solche familiäre Vorgeschichte deutet dieser Befund darauf hin, dass ihr Gehirn möglicherweise mehr Arbeit leisten muss, um von intern fokussiertem Denken umzuschalten.

„Das kann bedeuten, dass es ihnen schwerer fällt, sich von negativen inneren Zuständen wie Stress oder Grübeln zu lösen“, erklärte Schilling. „Eine solche Inflexibilität könnte die Grundlage für spätere Risiken bilden, wenn Substanzen als Mittel zur Flucht oder Selbstberuhigung eingesetzt werden.“

Jungen sind stärker für äußere Reize empfänglich

Im Gegensatz dazu zeigten Jungen mit einer familiären Vorgeschichte von SUD eine geringere Übergangsenergie in den Aufmerksamkeitsnetzwerken, die die Konzentration und die Reaktion auf externe Reize steuern. „Ihr Gehirn scheint weniger Anstrengung zu benötigen, um zwischen verschiedenen Zuständen zu wechseln, was zunächst positiv klingt, aber zu ungezügeltem Verhalten führen kann“, erkärte Kuceyeski. „Sie reagieren möglicherweise stärker auf ihre Umgebung und fühlen sich eher zu belohnenden oder stimulierenden Erfahrungen hingezogen.“

Einfach ausgedrückt, sagte sie: „Mädchen fällt es möglicherweise schwerer, auf die Bremse zu treten, während Jungen es leichter finden, Gas zu geben, wenn es um riskantes Verhalten und Sucht geht.“ Da die Unterschiede im Gehirn bereits vor dem Konsum von Substanzen auftraten, deuten sie möglicherweise eher auf eine vererbte oder frühkindliche Umweltanfälligkeit hin als auf die Auswirkungen von Drogen.

Hin zu einer personalisierteren Prävention

Aufgrund ihrer Ergebnissen betonen die Forscher die Notwendigkeit, die Daten von Jungen und Mädchen getrennt zu analysieren. Durchschnittswerte beider Gruppen könnte die Unterschiede nämlich verschleiern. Die von ihnen nachgewiesenen unterschiedlichen Muster unterstrichen zudem die Bedeutung des Geschlechts als biologische Variable in der Gehirn- und Verhaltensforschung.

Tatsächlich spiegelten die Ergebnisse wider, was Kliniker bei Erwachsenen beobachten: Frauen neigen eher dazu, Substanzen zur Linderung von Stress zu konsumieren und schneller eine Abhängigkeit zu entwickeln. Männer nutzen Substanzen hingegen eher, um Euphorie oder Aufregung zu empfinden. Die frühzeitige Erkennung neuronaler Anfälligkeiten im Jugendalter könnte nach Ansicht der Forschenden dazu beitragen, Präventionsmaßnahmen zu ergreifen, bevor der Drogenmissbrauch beginnt.

„Die Erkenntnis, dass Jungen und Mädchen unterschiedliche neuronale Wege zu derselben Störung nehmen können, kann uns dabei helfen, unsere Interventionen individuell anzupassen“, ist Kuceyeski überzeugt. „Beispielsweise könnten Programme für Mädchen sich auf den Umgang mit innerem Stress konzentrieren, während bei Jungen der Schwerpunkt eher auf Aufmerksamkeit und Impulskontrolle liegen könnte.“ (ej/BIERMANN)