Frust bei Ärzten und Patienten, hohe Kosten: Unzureichende Versorgung des Reizdarmsyndroms12. September 2022 Abbildung: © wladimir1804/stock.adobe.com Trotz der großen gesundheitsökonomischen Bedeutung des Reizdarmsyndroms (RDS) werden Betroffene häufig nicht ernst genommen, weil mit konventioneller Diagnostik keine Ursache ihrer Symptomatik gefunden werden kann. Das RDS ist auch Thema beim diesjährigen Kongress Viszeralmedizin. Die funktionellen Magen-Darm-Erkrankungen habe man bewusst in das wissenschaftliche Programm des diesjährigen Kongresses Viszeralmedizin aufgenommen, sagt Prof. Thomas Frieling, Chefarzt der Medizinischen Klinik II am Helios Klinikum Krefeld und Kongresspräsident der Deutschen Gesellschaft für Gastroenterologie, Verdauungs- und Stoffwechselkrankheiten (DGVS). Mit einer Prävalenz in Deutschland von etwa zehn Prozent sei das RDS häufig, betonte er anlässlich einer Pressekonferenz zum Tagungsauftakt. Zudem verursache es hohe direkte und indirekte Kosten – man könne daher mit Recht von einer Volkskrankheit sprechen. Auf der Grundlage von Forschungsergebnissen könne man sagen, dass es sich bei Erkrankungen wie dem RDS um einen „Sammeltopf“ handele: organische Erkrankungen, die durch unterschiedliche Ursachen im Bereich der Darm-Hirn-Achse bedingt sind. Dies sei aber noch nicht bei allen Patienten – und auch Ärzten – angekommen, unterstrich Frieling. So gebe es Patienten mit lokalen Störungen des Bauchhirns, des Immunsystems, der Darmbarriere beziehungsweise neuroendokriner Systeme in der Darmwand sowie Betroffene mit einer Störung der Kommunikation zwischen Bauchhirn und Kopfhirn und auch Patienten mit zentralen Reizverarbeitungsstörungen. Hinzukommen könnten neben verschiedenen Kombinationen auch psychische Auffälligkeiten wie Angststörungen. Man habe keine speziellen Untersuchungsverfahren, mit denen sich spezifische Ursachen des RDS erkennen ließen, betonte Frieling. So sei man in Bezug auf die Identifizierung von Biomarkern im Zusammenhang mit dem RDS zwar auf einem guten Weg – doch in der Breite gebe es solche noch nicht, erklärte der Gastroenterologe. Diese Hindernisse bei der Diagnose und damit auch einer erfolgreichen Therapie frustrierten Ärzte und Patienten gleichermaßen, und führten in der Folge – wegen häufigerer Arztwechsel und Doppeluntersuchungen – zu hohen Kosten für das Gesundheitssystem. Dies gehe, wie Frieling berichtete, unter anderem aus dem Ärztereport 2019 der Barmer Ersatzkasse hervor, der eine unzureichende Versorgung von Reizdarmpatienten in Deutschland aufzeige. Dabei gebe es schwerwiegende Defizite bei der Therapie, häufige Odysseen von einem Arzt zum anderen sowie einem Mangel an multidisziplinären Ansätzen unter Beteiligung auch anderer Berufsgruppen. Prof. Winfried Häuser, Sektionsleiter Psychosomatik der Klinik für Innere Medizin I am Klinikum Saarbrücken, betonte die Heterogenität des RDS in Bezug auf die klinische Symptomatik: Es kann sich in Obstipation, Blähungen, Durchfall oder imperativem Stuhldrang äußern. Deshalb sei auch eine individualisierte Diagnostik und Therapie notwendig – auch was die psychischen Aspekte betreffe. So gebe es eine Untergruppe von Patienten, bei denen psychische Faktoren wahrscheinlich gar keine oder eine nur untergeordnete Rolle spielten, während bei einer anderen, größeren Gruppe solche Aspekte von großer Bedeutung seien – sowohl bei der Entstehung als auch beim Verlauf des RDS. Es gehe nicht um die Frage „körperlich oder seelisch“, sondern um die Wechselwirkung zwischen körperlichen und seelischen Prozessen, betonte Häuser. Ein gutes Beispiel sei das postinfektiöse RDS. Es bestehe ein erhöhtes Risiko für ein RDS nach Infektionen des Gastroentestinaltraktes, referierte Häuser – haben aber die Betroffenen schon vorher beispielsweise an einer Angststörung gelitten oder standen sie im Verlauf der Infektion unter starker emotionaler Belastung, sei das Risiko für ein postinfektiöses RDS höher. Häuser machte aber auch auf die möglichen psychischen Folgen einer gastrointestinalen Symptomatik aufmerksam. Beispielsweise trügen Patienten mit imperativem Stuhldrang eine erhebliche Krankheitslast und entwickelten in der Folge nicht selten eine Angstsymptomatik. Er sehe in seiner Ambulanz Betroffene, die nicht mehr zur Schule gingen, im Studium keine Klausuren schreiben könnten oder monatelang krankgeschrieben sind. Weil die Angst bei vielen Patienten eine so große Rolle spiele, bestehe dann häufig auch noch zusätzlich die Sorge, dass sie an einer bisher unentdeckten Krankheit leiden. Das könne dann dazu führen, dass Druck auf den behandelnden Arzt ausgeübt wird, mit dem Ziel, immer mehr Untersuchungen durchzuführen – im Zweifelsfall solche, die nicht leitliniengerecht sind. Hier müsse vermittelt werden, dass die Diagnose eines RDS nach einer einmaligen gründlichen Untersuchung mit Ausschluss der wesentlichen Differenzialdiagnosen eine sichere Diagnose ist, sodass Mehrfachuntersuchungen vermieden werden müssen. Frieling betonte in diesem Zusammenhang, dass auch die Vergütung ein Problem darstelle: RDS-Patienten nähmen viel Zeit in Anspruch, doch die dabei praktizierte sprechende Medizin werde nur unzureichend bezahlt. Hier müsse man auch berufspolitisch ansetzen. Häuser brachte abschließend auch noch digitale Medien wie Gesundheits-Apps ins Spiel, mit deren Hilfe sich Patienten über die Ursachen ihrer Beschwerden aufklären ließen und in denen auch an einem multidisziplinären Therapieansatz beteiligte Berufsgruppen (z.B. Ernährungstherapeuten, Psychotherapeuten) benannt werden. Solche Apps seien allerdings „kein Allheilmittel, weil nur ein kleiner Teil der Patienten ausreichend Technik-affin ist“, erklärte Häuser. (ac)
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