Gentherapie: Hoffnung für gehörlose Kinder12. Mai 2025 Für die Gentherapie wird mithilfe eines Vektors eine gesunde Kopie des OTOF-Gens chirurgisch direkt in die Cochlea eingebracht. (Foto: © Universitätsklinikum Tübingen) An der Klinik für Hals-, Nasen- und Ohrenheilkunde des Universitätsklinikums Tübingen wurde im Rahmen einer klinischen Studie die in Deutschland erste gentherapeutische Behandlung eines Kindes durchgeführt, das aufgrund einer Mutation im Otoferlin-Gen nicht hören kann. Bis zu 80 Prozent aller Fälle von Schwerhörigkeit bei Neugeborenen und Kindern vor dem Spracherwerb sind genetisch bedingt. Unter diesen genetisch bedingten Fällen sind etwa ein bis acht Prozent auf krankheitsverursachende Mutationen im Otoferlin-Gen (OTOF) zurückzuführen. Kinder mit dieser seltenen Erkrankung sind meist von Geburt an beidseitig hochgradig schwerhörig oder gehörlos. Mutationen im OTOF-Gen können bewirken, dass die Cochlea den Schall zwar aufnimmt, aber die Signale nicht an den Hörnerv weiterleiten kann. Bisher erhalten betroffene Kinder Cochlea-Implantate, die bei hochgradiger Schwerhörigkeit oder Gehörlosigkeit in einem chirurgischen Eingriff eingesetzt werden und über eine in die Cochlea eingeführte Elektrode den Hörnerv stimulieren. Für viele betroffene Kinder sind die Implantate eine lebensverändernde und sehr effektive Lösung. Cochlea-Implantate sind auch für andere Formen des Hörverlusts anwendbar – und werden weiterhin die derzeit bestmögliche Therapie für diejenigen Kinder sein, die aus verschiedenen Gründen nicht für die klinische Gentherapiestudie in Frage kommen. Der Eingriff, der im April 2025 von Prof. Hubert Löwenheim, Ärztlicher Direktor der Universitätsklinik für Hals-, Nasen- und Ohrenheilkunde, durchgeführt wurde, ist möglicherweise der Beginn eines neuen medizinischen Ansatzes zur ursächlichen Behandlung genetisch bedingter Schwerhörigkeit. Die Gentherapie zielt darauf ab, das natürliche Gehör auf molekularer Ebene wiederherzustellen. Wie funktioniert die Gentherapie? Mithilfe eines Vektors wird eine gesunde Kopie des OTOF-Gens chirurgisch direkt in die Cochlea eingebracht. Hierdurch kann das Innenohr eventuell Signale an den Hörnerv wieder übertragen, der ursächliche Defekt wird behoben. „Die erfolgreiche Einführung der Gentherapie bei genetischem Hörverlust könnte eine völlig neue medizinische Perspektive für die Herstellung des Hörvermögens eröffnen. Wir treten in die Ära der ‚Molekularen Otologie‘ ein, in der wir die etablierten mechanischen und elektrischen Lösungen durch eine molekulare Behandlungsmethode ergänzen. Wir versuchen, an der genetischen Ursache der Erkrankung anzusetzen“, erklärt Löwenheim. Internationale Studie zeigt vielversprechende Ergebnisse Der Eingriff wurde im Rahmen der internationalen klinischen Studie CHORD (Clinical trial of Hearing Restoration with Otoferlin gene Delivery) durchgeführt, die von dem US-Unternehmen Regeneron Pharmaceuticals, Inc. in Tarrytown im Bundesstaat New York gesponsert wird und im Mai 2023 gestartet ist. Die Studie untersucht den Einsatz der experimentellen Gentherapie DB-OTO zur Behandlung von Hörverlusten, die durch krankheitsverursachende Veränderungen im Otoferlin-Gen verursacht werden. Eingeschlossen werden Kinder im Alter von 0 bis 17 Jahren in vier Ländern (Deutschland, Vereinigtes Königreich, Spanien, USA). Bisher wurde die Sicherheit und Wirksamkeit dieser Versuchstherapie noch von keiner Zulassungsbehörde bewertet. Erste Ergebnisse sind allerdings vielversprechend: Regeneron berichtete im Februar 2025, dass zehn von elf Teilnehmenden der CHORD-Studie nach der Behandlung mit DB-OTO zum Teil deutliche Verbesserungen des Hörvermögens zeigten. Besonders erwähnenswert ist ein Fall an einem Klinikum im Vereinigten Königreich, bei dem ein zehn Monate altes Kind nach der Gentherapie innerhalb von sechs Wochen deutliche Verbesserungen des Hörvermögens zeigte. 24 Wochen nach der Behandlung konnte es auf leise Töne und Sprache reagieren, was das Potenzial von DB-OTO zur Wiederherstellung des Hörvermögens bei Kindern mit OTOF-bedingter Taubheit belegt. Wie sich das Hörvermögen des Patienten am Uniklinikum Tübingen in den nächsten Wochen und Monaten entwickeln wird, überprüfen die Mediziner in strukturierten Nachuntersuchungen. Um umfassende Daten über die Wirksamkeit und Sicherheit der Therapie zu sammeln, werden in den kommenden Monaten weitere Teilnehmende in mehreren Ländern in die Studie eingeschlossen. Der potenzielle Erfolg der Gentherapie bei der Behandlung von OTOF-bedingter Schwerhörigkeit ebnet den Forschenden zufolge zudem den Weg für ähnliche Ansätze, die auf andere genetische Ursachen von Hörverlust abzielen. „Ähnlich wie die Cochlea-Implantation sollten Gentherapien für angeborene Schwerhörigkeit oder Taubheit möglichst früh im Leben der betroffenen Kinder durchgeführt werden. Deshalb ist es wichtig, Kinder mit Auffälligkeiten in diesem Bereich möglichst früh genetisch zu untersuchen, um eine spezifische Ursache feststellen zu können. Nur so kann sich das Gebiet der Molekulare Otologie wirklich weiterentwickeln“, betont Löwenheim. Hoffnung für Menschen mit seltenen Erkrankungen „Dieser Fortschritt bringt nicht nur Hoffnung für Menschen mit angeborenem Hörverlust, sondern ist auch wissenschaftlich ein Modell dafür, was bei einer Vielzahl seltener Erkrankungen erreicht werden kann. Wir freuen uns sehr, dass das Zentrum für Seltene Hörerkrankungen den Rahmen für die Entwicklung von klinischer Expertise, Patientenbetreuung und langfristigem Engagement für Innovation und Interdisziplinarität geschaffen hat, um diesen neuen gentherapeutischen Ansatz in einer klinischen Studie untersuchen zu können“, erklärt Prof. Hendrik Rosewich, Sprecher des Zentrums für Seltene Erkrankungen am Universitätsklinikum Tübingen und Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin, Abteilung III. Seltene Erkrankungen betreffen nur wenige Menschen und haben durch den oft langsamen Fortschritt in der Forschung und durch begrenzte Behandlungsmöglichkeiten tiefgreifende persönliche und soziale Folgen. Patientinnen und Patienten sollen die Wahl haben Die Gentherapie stehe nicht im Wettbewerb mit Cochlea-Implantaten, betont Löwenheim. Vielmehr soll sie – falls von den Regulierungsbehörden genehmigt – das Behandlungsspektrum derjenigen Kinder erweitern, deren Schwerhörigkeit oder Taubheit durch eine Mutation im OTOF-Gen bedingt ist. „Wir hoffen, dass wir mit der Zeit in der Lage sein werden, den Patientinnen und Patienten je nach ihren individuellen Bedürfnissen und Umständen die Wahl zwischen verschiedenen therapeutischen Optionen oder Kombinationen anbieten zu können“, erklärt der Ärztliche Direktor der HNO-Klinik. Informationen für Patientinnen und Patienten, Angehörige, Ärztinnen und Wissenschaftler Familien, die an der Teilnahme in klinischen Studien interessiert sind, sowie Ärztinnen und Ärzte, die Patientinnen und Patienten überweisen möchten, können sich an die Studienzentrale Auge und Ohr wenden: Dr. Tobias Peters, LeitungUniversitätsklinikum TübingenElfriede-Aulhorn-Str. 5, 72076 Tübingen, DeutschlandTel.: 07071 29-84894 oder -64349E-Mail: [email protected] www.medizin.uni-tuebingen.de/de/studienzentrale-auge-ohr#startseite
Mehr erfahren zu: "Krebsforschung: Fördermittel für innovative Ansätze" Krebsforschung: Fördermittel für innovative Ansätze Die Wilhelm Sander-Stiftung unterstützt 15 vielversprechende Projekte aus verschiedenen Bereichen der Onkologie mit einer Fördersumme von insgesamt 2.601.092 Euro.
Mehr erfahren zu: "Neuer Anlauf für Reform der Notfallversorgung" Neuer Anlauf für Reform der Notfallversorgung Wenn abends oder am Wochenende dringende Beschwerden auftauchen, gehen viele direkt in Rettungsstellen der Krankenhäuser – stundenlanges Warten inklusive. Eine Reform soll effizientere Wege schaffen.
Mehr erfahren zu: "COVID-19: Komplikationsrisiko hält nach Infektion länger an als nach Impfung" COVID-19: Komplikationsrisiko hält nach Infektion länger an als nach Impfung Während der Corona-Pandemie entwickelten Kinder und Jugendliche nach einer COVID-19-Erkrankung häufiger Herz- oder Gefäßerkrankungen als nach einer Impfung. Die Risiken für diese Komplikationen hielten nach einer Infektion auch deutlich länger […]