Innsbrucker RNA-Forscher klären Zusammenhänge von vier Seltenen Krankheiten

Alexander Hüttenhofer, Direktor des Instituts für Genomik und RNomik, Medizinische Universität Innsbruck. (Foto: D. Bullock) MUI

Wissenschaftler um Prof. Alexander Hüttenhofer, Direktor des Institutes für Genomik und RNomik der Medizinischen Universität Innsbruck, ist es gelungen, die Rolle von nichtkodierenden RNAs bei der Entstehung des seltenen Schaaf-Yang-Syndroms zu klären.

Im Zuge des Projektes entdeckten die Forschenden die genetischen Zusammenhänge zwischen insgesamt vier Seltenen Krankheiten.

Vor sieben Jahren ging Porf. Alexander Hüttenhofer, dem Direktor des Instituts für Genomik und RNomik an der Medizinischen Universität Innsbruck, seine Armbanduhr richtig auf den Zeiger. Heute kann er nun behaupten, dass ihn der unzuverlässige Zeitmesser, der oft kaputt war, zur genetischen Klärung von vier Krankheitsbildern geführt hat. Durch die vielen Reparaturen seiner Uhr kam er irgendwann mit dem Uhrmacher ins Gespräch, der ihm von seinem Kind erzählte. Das damals etwa acht Jahre alte Mädchen konnte nicht laufen, sie sprach nicht und zeigte Symptome von Autismus. Diese Eigenschaften ließen Hüttenhofer hellhörig werden. Sie erinnerten ihn an Patienten mit dem Prader-Willi-Syndrom.

Wie es der Zufall wollte, war Hüttenhofer im Jahr 2000 in Münster als Projektleiter am Deutschen Humanen Genom Projekt beteiligt, bei dem sich seine Arbeitsgruppe erstmals mit der Identifizierung von nicht-Protein-kodierenden RNAs (ncRNA) auseinandersetzte. Heute weiß man, dass ncRNAs mit circa 96 Prozent im Vergleich zu den proteinkodierenden Genen (d.h. messenger RNAs) mit circa vier Prozent die überwältigende Mehrheit an RNA in menschlichen Zellen ausmachen. Eine der Hauptaufgaben der ncRNAs ist dabei die Genregulierung: ncRNAs schalten einzelne Gene ein oder aus und regeln damit deren Proteinproduktion.

Im Zuge des Humanen Genom Projekts entdeckte Hüttenhofer damals drei ncRNAs, die überraschenderweise nur im Gehirn angeschaltet wurden und die er HBII-13, HBII-52 und HBII-85 nannte. „Bis dahin dachte man, dass ncRNAs in allen Zellen dasselbe machen. Diese drei nichtkodierenden RNAs, die auf einem Abschnitt des Chromosom 15 des Menschen kodiert sind, waren damit die ersten identifizierten ncRNAs im Gehirn“, schildert er.

Vom Prader-Willi-Syndrom zum Schaaf-Yang-Syndrom

Wiederum einige Jahre später, 2008, identifizierten Wissenschafter die genetische Ursache des Prader-Willi-Syndroms (PWS), das bei 1:15.000 Neugeborenen auftritt. Den Betroffenen mit PWS fehlt meistens ein ganzer Chromosomenabschnitt (d.h. vier Millionen Basenpaare) auf dem väterlichen Chromosom 15 und interessanterweise damit auch die Gene für die ncRNAs HBII-13, HBII-52 und HB-85. Noch spannender war, dass sich später bei weiteren PWS Patienten herausstellte, dass ihnen nur die inzwischen in SNORD116 umbenannte HBII-85-RNA, die als sogenanntes Gencluster in insgesamt 30 Genkopien auf dem Chromosom 15 vorkommt, fehlte und dieses Fehlen unmittelbar für die PWS-Symptomatik verantwortlich ist. „Das war das erste Mal, dass man gesehen hat, dass eine ncRNA auch eine Krankheit verursachen kann“, erklärt Hüttenhofer. Kinder mit PWS haben Bewegungsschwierigkeiten (muskuläre Hypotonie), sind in der mentalen Entwicklung verzögert und sie spüren kein Sättigungsgefühl, was zu schwerem Übergewicht und entsprechenden Folgeerkrankungen führt.

Als Hüttenhofer Jahre später vom Uhrmacher die Beschreibung der Symptome der Tochter hörte, überzeugte er mit Unterstützung des Genetikers Andreas Janecke und Kinderklinik-Direktor Thomas Müller die Eltern, das Kind genetisch untersuchen zu lassen. „80 Prozent der Eigenschaften der Tochter haben mich an das Prader-Willi-Syndrom erinnert, aber sie stimmten nicht ganz damit überein. In Peking haben wir dann die Genome der Tochter und beider Eltern sequenzieren lassen.“ Bei der Tochter, nicht aber bei den Eltern, wurde eine Mutation im sogenannten MAGEL2-Proteingen gefunden, welches zu ähnlichen Symptomen wie PWS führte und das dabei ebenfalls auf Chromosom 15 in unmittelbarer Nähe zum SNORD116-Cluster lag.

Bei der Tochter fehlte also nicht das SNORD116-Gencluster selbst, wie beim Prader-Willi-Syndrom, sondern es gab eine Mutation im MAGEL2-Gen. Die MAGEL2-Mutation war zuvor bereits als Verursacher des „Prader-Willi-ähnlichen Syndroms“ bei weltweit etwa nur 120 Kindern mit ähnlichen Symptomen wie PWS beschrieben und wurde später nach seinen Entdeckern als Schaaf-Yang-Syndrom (SYS) bezeichnet. „Andreas Janecke hat herausgefunden, dass bei der Patientin wirklich nur ein einziges Nukleotid zusätzlich vorhanden ist, welches die Funktion des MAGEL2-Proteins stört“, erklärt Hüttenhofer. Das Ziel seiner Arbeitsgruppe war es nun, den Zusammenhang zwischen dem mutierten MAGEL2-Gen und dem Fehlen der SNORD116-RNA herzustellen, die beide eine sehr ähnliche Symptomatik verursachten.

Sie konnten zeigen, dass nur ein funktionales MAGEL2-Protein in der Lage war, die SNORD116-RNA in ausreichenden Mengen zu produzieren. „Wenn es aber mutiert ist, kann es nur eine sehr geringe Menge an SNORD116 erzeugen. Dies kann, zumindest teilweise, die ähnliche Symptomatik zwischen den Krankheiten PWS und SYS erklären“, so der Wissenschaftler.

Die Familie des Mädchens mit SYS kennt jetzt den zu erwartenden Verlauf der Erkrankung. Aufgrund von anderen Patienten mit SYS wissen die Eltern nun, dass die Tochter nichts von dem, was sie einmal dank Fördermaßnahmen wie Physiotherapie gelernt hat, wieder verlernen wird. Eine ursächliche Behandlung für SYS-Patienten gibt es zwar bisher nicht, allerdings könnten die vorliegenden Forschungsergebnisse zu neuen Therapieansätzen führen.

Zusammenhang mit Spinaler Muskelatrophie und Fragile-X-Syndrom

Für das Team um Hüttenhofer, der in dem Projekt neben der Kollaboration mit der Universitätsklinik für Pädiatrie I eng mit Kollegen vom Innsbrucker Biozentrum, d.h. dem Institut für Zellbiologie (Direktor: Lukas Huber), dem Institut für Pathophysiologie (Direktor: Hesso Farhan), der Core Facility Proteomics am Institut für Medizinische Biochemie (Direktor: Ludger Hengst), und dem Stammzellenforscher Frank Edenhofer vom Institut für Molekularbiologie der Universität Innsbruck, sowie dem Heidelberger Humangenetiker Christian Schaaf – einer der Namensgeber des Schaaf-Yang-Syndroms – zusammenarbeitete, waren damit noch nicht alle Rätsel gelöst. Sie machten sich auf die Suche nach weiteren Interaktionspartnern des MAGEL2-Proteins, das die gesamte Symptomatik des Schaaf-Yang-Syndroms erklären konnte.

Im Laufe des Projekts entdeckten sie dabei Zusammenhänge der MAGEL2-Mutation zu zwei weiteren Seltenen Krankheiten, die dem SYS ähneln: dem Fragile-X-Syndrom (FXS), das unter anderem als Symptomatik auch Autismus zeigt, und der Spinalen Muskelatrophie (SMA), bei der die Patienten sukzessive ihre Bewegungsfähigkeit verlieren. Beide Symptomatiken werden auch bei Schaaf-Yang-Syndrom Patienten beobachtet. Damit konnte also, ausgehend von einer einzigen ncRNA und einer Mutation im MAGEL2-Gen, der Zusammenhang zwischen vier unterschiedlichen Seltenen Erkrankungen hergestellt werden.