Intensiv- und Notfallmediziner kritisieren Verlosung von SMA-Medikament18. Februar 2020 Ethisch fragwürdig und moralisch auf keinen Fall einfach hinnehmbar: Deutschlands Intensiv- und Notfallmediziner kritisieren die Verlosung eines in Europa noch nicht zugelassenen Medikamentes gegen Spinale Muskelatrophie (SMA) an 100 Kleinkinder scharf. „Hier wird nicht nur das offizielle Zulassungsverfahren ausgehebelt, es wird auch mit der Hoffnung von Familien gespielt und völlig intransparent über die Vergabe eines Wirkstoffes entschieden“, kritisiert Prof. Uwe Janssens, Präsident der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI). Als Stimme von rund 3000 Mitgliedern sowie Sprecher der DIVI-Sektion Ethik sieht er durch diesen Vorstoß medizinisch geübte und gültige Vorgehensweisen umgangen: „Die Indikation zur Gabe eines Medikamentes stellt der Arzt, die Zustimmung erteilt der Patient oder der juristische Stellvertreter – aber nicht ein Pharmakonzern“, so Janssens. „Das Bundesgesundheitsministerium muss schnellstmöglich diese Lücken bei der Vergaberegelung schließen!“ Auch rund zwei Wochen nach Bekanntwerden dieser Medikamenten-Lotterie hätten sich nur wenige offizielle Stellen zu den ethisch-moralischen Aspekten dieses fragwürdigen Vorgehens geäußert. “Dabei muss diese Diskussion unter Experten und in der Gesellschaft jetzt stattfinden, damit das Los-Verfahren nicht zum Regelfall wird, um teure Medikamente auf den Markt zu bringen“, sagt Janssens, Chefarzt der Klinik für Innere Medizin und Internistische Intensivmedizin am St.-Antonius-Hospital in Eschweiler. „Es muss allen klar sein: Gesundheit ist kein Lotteriespiel!“ DIVI sieht Bundesgesundheitsministerium in der Pflicht Dass die Teilnahme Deutschlands an der Verlosung überhaupt möglich wurde, liegt an der Zustimmung des Paul-Ehrlich-Instituts (PEI) zu einem von der Firma angezeigten Härtefallprogramm. „Wenn ein noch nicht zugelassenes Arzneimittel eingesetzt wird, müssen die Kriterien der Vergabe und des Einsatzes transparent und nachvollziehbar sein. Das ist eine wesentliche Voraussetzung, damit das Medikament in wissenschaftlichen, industrieunabhängigen Studien auf seine bessere Wirksamkeit und auf seine Sicherheit geprüft werden kann“, betont Dr. Kathrin Knochel, Ärztin für klinische Ethik, Intensiv- und Palliativmedizin aus München sowie Mitglied der Sektion Ethik der DIVI. „Mit der Verlosung wird suggeriert, dass das Medikament allen Patienten helfen wird. So wird unkritisch und in aller Öffentlichkeit mit den Hoffnungen und dem Leid der Betroffenen gespielt.“ Das Paul-Ehrlich-Institut ist das deutsche Bundesinstitut für Impfstoffe und biomedizinische Arzneimittel – und gehört wiederum zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Gesundheit. „Hier kommt das Gesundheitsministerium in eine moralische Konfliktsituation: Es billigt mit der Verlosung einen Verstoß gegen geübte Regeln zur Zulassung und Anwendung einer neuen medikamentösen Therapie. Gleichzeitig beschädigt das intransparente Verfahren des Herstellers die medizinische Sorgfaltspflicht“, sagt Axel Hübler, Sprecher der DIVI-Sektion Neonatologische Intensiv- und Notfallmedizin sowie Chefarzt der Klinik für Kinder und Jugendmedizin am Klinikum Chemnitz. „Dies gefährdet die Sicherheit der uns anvertrauten Patienten und ist für uns Ärzte nicht hinnehmbar!“ Nach der Zufallsprinzip-Verteilung einer nicht zugelassenen Substanz sei nun die Pflicht des Bundesgesundheitsministeriums, die elementar verletzten ethischen und medizinischen Rahmenbedingungen wiederherzustellen. Kriterien der Auswahlkommission sind völlig intransparent Aus ethischen Gesichtspunkten ist diese Medikamenten-Lotterie nur auf den ersten Blick vertretbar: „Grundsätzlich stellt das Losverfahren eine Chancengleichheit zwischen allen Betroffenen her. Deshalb ist es ein ethisch durchaus begründbares Verfahren“, bestätigt Dr. Gerald Neitzke vom Institut für Geschichte, Ethik und Philosophie der Medizin an der Medizinischen Hochschule Hannover. „Wenn eine Therapie nicht allen Betroffenen zur Verfügung steht, kann die Verlosung dazu beitragen, dass ohne Ansehen der Person entschieden wird.“ Aber: Aus Sicht von Ärzten sei genau dieses Auswahlverfahren nicht unbedingt gerechtfertigt, ergänzt Neitzke, der auch Mitglied der DIVI-Sektion Ethik ist. „Uns Medizinern leuchten die Kriterien der Dringlichkeit und Erfolgsaussicht eher ein – wie zum Beispiel bei der Vergabe von Spenderorganen.“ Nun gelte im Falle der SMA bei betroffenen Kindern aber: Je höher die Dringlichkeit, desto schlechter die Erfolgsaussichten. Heißt im Umkehrschluss: „Novartis muss sicherstellen, dass die zur Verlosung zugelassenen Kinder alle etwa gleich schwer betroffen sind und die gleiche Erfolgsaussicht haben. Nur dann erfüllt diese Lotterie des nur knapp verfügbaren Medikamentes alle Kriterien einer gleich fairen Zuteilung“, sagt Neitzke. Nach welchen Kriterien die Auswahlkommission des Pharmakonzerns entscheide, sei aber für Außenstehende völlig intransparent. Ökonomisches Kalkül? Ein ein transparenter sowie unabhängiger Vergabeprozess rechtfertige nach Meinung der DIVI-Experten aber noch immer nicht das ethisch-moralisch fragwürdige Vorgehen von Novartis: „Die ethische Beurteilung dürfte auch davon abhängen, warum das Präparat nur derart begrenzt zur Verfügung steht“, sagt Prof. Gunnar Duttge, ebenfalls Mitglied der Ethik-Sektion der DIVI und Leiter der Abteilung für strafrechtliches Medizin- und Biorecht der Juristischen Fakultät der Universität Göttingen. Der Konzern hatte die Verknappung mit der hohen Auslastung des herstellenden Werkes in den USA begründet. Die DIVI befürchtet hingegen, dass die Verknappung gewollt ist und einem ökonomischen Kalkül folgt: Die Therapie soll etabliert und ihre Wirksamkeit öffentlichkeitswirksam dargestellt werden – um dann nach der Zulassung in Europa über die Verordnungen den Preis wieder einzuspielen. Unabhängig davon setze das derzeitige Vorgehen alle bisherigen Mechanismen einer fundierten und eingeübten Therapieverordnung außer Kraft, sind sich die Experten der DIVI einig. Sie sehen die deutliche Gefahr, dass durch die Medikamenten-Verlosung öffentlicher Druck auf die Zulassungsbehörden in Europa ausgeübt werden könnte, um so die Preisvorstellungen des Pharmakonzerns durchzusetzen. „Wenn andere Konzerne diesem Beispiel folgen, dann stehen die Behörden zukünftig immer wieder vor der unmoralischen Entscheidung: Entweder wird den Betroffenen die nicht zugelassene Therapie vorenthalten – oder es wird jeder beliebige Preis bezahlt“, sagt DIVI-Präsident Janssens. „Diese Situation wollen wir nicht. Die Medizin und das Gesundheitssystem dürfen nicht erpressbar werden.“
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