Klinische Referenzstudie: Wann ist eine Genom-Sequenzierung ratsam?7. Juni 2024 Abbildung: © blende11.photo/stock.adobe.com Forschende haben in zwei voneinander unabhängigen Patientenkohorten gezeigt, unter welchen Umständen die Sequenzierung des gesamten Genoms Vorteile bei der Diagnose genetischer Erkrankungen bietet. Die Wissenschaftler vom Broad Institute of MIT and Harvard, der Harvard Medical School (USA) und der Universitätsmedizin Leipzig sind der Ansicht, dass die gemeinsam publizierte Studie aufgrund ihrer breiten Datenbasis aus Forschung und aus klinischer Anwendung wichtige Impulse für die diagnostische Praxis liefert. Viele Erkrankungen, die auf Genmutationen zurückzuführen sind, kennt die Wissenschaft bereits und kann sie bestimmten Genen zuordnen. Um sie zu diagnostizieren, wird standardmäßig das Verfahren der Exom-Sequenzierung eingesetzt. Dabei werden Teile jener Abschnitte der menschlichen DNA analysiert, die unmittelbar für die korrekte Bildung von Proteinen zuständig sind. Dieser kodierende Teil, das Exom, macht nur etwa ein Prozent der gesamten DNA aus, ist aber besonders relevant. „Eine Exom-Analyse führt jedoch in zwei Dritteln der Fälle nicht zu einer Diagnose; dann stellt sich die Frage, was nun?“, führt Prof. Rami Abou Jamra aus. Er ist Professor für Medizinische Genomik an der Universität Leipzig und leitet die Genetische Diagnostik am Institut für Humangenetik, Universitätsklinikum Leipzig (UKL). „Für die Betroffenen und ihre Familien bedeutet eine eindeutige Diagnose sehr viel: nicht nur die Bestätigung, dass die Krankheit nicht ihre eigene Schuld ist – sie ebnet auch den Weg für öffentliche Anerkennung und eine personalisierte Therapie, wo dies möglich ist“, erklärt der Arzt. Um die Vorteile einer vollständigen Genom-Sequenzierung im Vergleich mit der Exom-Sequenzierung beurteilen zu können, untersuchten Wissenschaftler des Broad Institute of MIT and Harvard sowie der Harvard Medical School in Boston 744 Familien. Hierbei handelt es sich um erkrankte Kinder und ihre Eltern, bei denen der Verdacht auf eine genetisch bedingte Erkrankung vorlag und bei denen eine Exom-Sequenzierung zum Teil keine Diagnose ermöglicht hatte. Das Institut für Humangenetik in Leipzig analysierte mittels Genom-Sequenzierung in einer unabhängigen Patientenkohorte 350 Familien, bei denen eine Exom-Sequenzierung kein Licht ins Dunkel gebracht hatte. Die ersten 78 Fälle flossen in die gemeinsame Studie mit den Bostoner Kollegen ein. Von allen Familien wurde das Genom in Milliarden kleine Abschnitte zerschnitten und abgelesen (Short Read Sequencing). Die Daten werteten die Forschenden mittels bioinformatischer Programme und Algorithmen aus. „Im Vergleich zu einer Exom-Sequenzierung brachte die Genom-Sequenzierung in zusätzlichen acht Prozent der Fälle Klarheit: das ist relevant mehr“, erläutert Abou Jamra, der die Leipziger Studie leitete. „Insbesondere, wenn eine krankheitsursächliche genetische Veränderung darin besteht, dass sehr kleine DNA-Abschnitte fehlen, unspezifische Sequenzen sich verlängern oder wenn die Veränderung gar nicht im kodierenden Teil liegt, hilft diese Methode entschieden weiter.“ „Bei der Exom-Sequenzierung werden die kodierenden Abschnitte im Labor aus der DNA herausgelöst und chemisch angereichert, und das führt leider zu einem Qualitäts- und Informationsverlust“, erklärt der Forscher. Aber genau diese Informationen könnten entscheidende Hinweise enthalten. Zudem haben auch Genabschnitte außerhalb des Exoms wichtige Funktionen, etwa zur Regulierung von Mechanismen, die die Proteinsynthese steuern. Diese Abschnitte werden mit einer Exom-Analyse gar nicht erfasst. Schließlich wollen die Forschenden durch den umfassenden Blick über das gesamte Genom neue Krankheitsbilder und -mechanismen identifizieren. „Unsere Daten legen nahe, schneller zur Genom-Sequenzierung zu greifen, gerade wenn eine Exom-Sequenzierung keine Klarheit gebracht hat“, unterstreicht Abou Jamra. „In der Vergangenheit gab es in der Fachliteratur Unklarheit, wann eine Genom-Sequenzierung geboten ist. Die ermittelte, große Datenbasis zeigt nun auch dank des Leipziger Beitrags, dass die Ergebnisse durchaus in der klinischen Anwendung tragfähig sind.“ Ein weiterer Vorteil der Genom-Sequenzierung, obwohl diese derzeit noch etwa zweieinhalbmal so teuer ist wie eine Exom-Sequenzierung, ist ein langfristiger: Liegen die Daten einmal vor, sei es einfach, diese später noch einmal auf neue Erkenntnisse zu überprüfen, da weltweit neue krankheitsrelevante Gen-Mutationen entdeckt und dokumentiert werden, wie Abou Jamra betont. Und was kommt als Nächstes? „Wir werden mehr Genome ablesen, und das alles mit einer noch aufschlussreicheren Technik, die sich Long Read Sequencing nennt. Sie erlaubt das Ablesen längerer Abschnitte an einem Stück“, erklärt Abou Jamra. „Damit wollen wir alle genetisch bedingten Krankheiten entschlüsseln.“
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