Nervenschäden bei Typ-2-Diabetes entstehen oft schon vor der Diagnose

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Entscheidend für das Auftreten von diabetischen Neuropathien ist bei guter Einstellung scheinbar nicht der Blutglukosespiegel, sondern der Zustand der Nerven zum Zeitpunkt der Diagnose, wie eine Langzeitbeobachtung ergeben hat. Das unterstreicht die Bedeutung von Früherkennung und Prävention.

Die diabetische Polyneuropathie ist eine der häufigsten und belastendsten Folgeerkrankungen bei Menschen mit Diabetes. Sie betrifft die peripheren Nerven, vor allem an den Füßen und Beinen, und kann zu Gefühlsverlust, Taubheitsgefühlen, Kribbeln, Schmerzen oder Muskelschwäche führen. Durch ein eingeschränktes Berührungsempfinden drohen langwierige Fußwunden und sogar Amputationen. Ausgelöst wird die Neuropathie durch chronisch erhöhte Blutglukosewerte bei Diabetes sowie durch Übergewicht und weitere Risikofaktoren wie Bluthochdruck und erhöhte Blutfettwerte.

Trotz intensiver Forschung gibt es bislang keine ursächliche oder wirksame Therapie, die das Fortschreiten der diabetischen Neuropathie dauerhaft aufhält oder die Schäden rückgängig machen kann. Die Behandlung beschränkt sich meist auf die Linderung von Symptomen. Forschende des Deutschen Diabetes-Zentrums (DDZ) und des Deutschen Zentrums für Diabetesforschung (DZD) haben in einer Langzeitbeobachtung neue Erkenntnisse gewonnen, die Ergebnisse der Studie wurden bereits Ende Mai in der Fachzeitschrift “Neurology” veröffentlicht.

Eigentlicher Schaden oft schon vor Diagnose entstanden

Frühere Studien legen nahe, dass selbst eine gute Blutglukoseeinstellung Nervenschäden bei Menschen mit Typ-2-Diabetes nur begrenzt verhindern kann. Bei Typ-1-Diabetes scheint dies hingegen besser zu gelingen.

Ein möglicher Grund: „Typ-1-Diabetes wird oft frühzeitig erkannt und schnell behandelt, da die Erkrankung meist plötzlich und mit klaren Symptomen innerhalb weniger Tage bis Wochen auftritt. Typ-2-Diabetes hingegen bleibt oft über Jahre unentdeckt. Schon während dieser teils symptomlosen Phase kann es unbemerkt zu Schädigungen der Nerven kommen, die dann zum Zeitpunkt der Diagnose bereits bestehen“, sagt Dr. Alexander Strom vom DDZ, der gemeinsam mit dem DDZ-Kollegen Dr. Gidon Bönhof eine neue Studie geleitet hat, in der diese Hypothese bekräftigt wird.

Über zehn Jahre hinweg wurden mehr als 140 Menschen mit neu diagnostiziertem, sehr gut kontrolliertem Typ-2-Diabetes untersucht. Ihre Nervenfunktionen wurden regelmäßig mit etablierten Messmethoden überprüft und mit einer stoffwechselgesunden Kontrollgruppe verglichen. Das Ergebnis: Der Rückgang der Nervenleitgeschwindigkeit – ein zentraler Marker für Nervenschäden – war in beiden Gruppen ähnlich ausgeprägt.

Zustand der Nerven zum Diagnosezeitpunkt entscheidend

„Unsere Daten zeigen, dass bei Menschen mit gut eingestelltem Typ-2-Diabetes das Risiko für eine Verschlechterung der Nervenfunktion vor allem vom Zustand der Nerven zum Zeitpunkt der Diagnose abhängt“, erklärt Prof. Michael Roden, wissenschaftlicher Geschäftsführer des DDZ sowie Direktor der Klinik für Endokrinologie und Diabetologie am Universitätsklinikum Düsseldorf. Die Nervenleitgeschwindigkeit im ersten Jahr nach der Diabetes-Diagnose ist insgesamt ein wichtiger Hinweis dafür, nach wie vielen Jahren mit einer verminderten Nervenfunktion zu rechnen ist.

„Bei vielen Betroffenen scheint der entscheidende Schaden also bereits vor der eigentlichen Diagnose eines Typ-2-Diabetes entstanden zu sein“, erklärt Strom. „Je stärker die Nerven schon bei der offiziellen Diagnose beeinträchtigt sind, desto früher wird eine Neuropathie im weiteren Lebensverlauf auftreten.“ Das könnte auch erklären, warum viele neue Therapieansätze bei bereits vorliegender Neuropathie keine Wirkung gezeigt haben.

Die Ergebnisse sind aber auch eine gute Nachricht für Menschen mit Typ-2-Diabetes. Ist der Diabetes optimal eingestellt, findet keine beschleunigte Abnahme der Nervenfunktion statt.

Früherkennung und Prävention müssen in den Fokus

Das im Rahmen der Studie entwickelte Prognose-Tool könnte ein hilfreiches Werkzeug sein, um den Abbau der Nervenfunktion bei Menschen mit Diabetes vorherzusagen. Mit diesem können Ärztinnen und Ärzte abschätzen, wann bei einer Person die Nervenfunktion unter einen kritischen Schwellenwert fällt. Berücksichtigt werden Alter und Ausgangsbefund – Voraussetzung ist, dass der Diabetes gut eingestellt bleibt. Das Modell könnte künftig helfen, Hochrisikopatientinnen und -patienten frühzeitig zu erkennen und gezielt präventiv zu behandeln.

Über die Deutsche Diabetes Studie

Die Deutsche Diabetes Studie beobachtet Patienten mit einem neu diagnostizierten Typ-1- oder Typ-2-Diabetes von Beginn an über sieben Jahre hinweg. So können auch frühzeitig auftretende Warnzeichen für spätere Komplikationen entdeckt und alle zugelassenen Therapieverfahren parallel miteinander verglichen werden. Auch der Einfluss der Gene auf den Verlauf der Erkrankung wird untersucht. Die Studie wird deutschlandweit an sieben Standorten im Rahmen des DZD durchgeführt – das DDZ ist federführend beteiligt.