Neue europäische Blutdruckleitlinie setzt 140/80 mmHg als „rote Linie“

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Die neue Bluthochdruckleitlinie der European Society of Hypertension (ESH) definiert neue Risikofaktoren und Komorbiditäten, die für das mögliche Vorliegen einer Hypertonie sensibilisieren sollen. Stärker hervorgehoben wurde auch die Unterteilung der Hypertonie in drei Klassen anhand des Grads hypertonieassoziierter Organschädigungen.

Im Hinblick auf die Zielwerteinstellung definiert die Leitlinie einen Maximalwert, lässt ansonsten den Ärztinnen und Ärzten Handlungsspielräume, die Therapie je nach individuellem Risiko zu intensivieren. Bei Menschen über 40 Jahre sowie jüngeren, die Risikofaktoren aufweisen, sollte einmal pro Jahr eine Blutdruckmessung durchgeführt werden. Außerdem wird die Sekundärprävention der Chronischen Nierenerkrankung in den Fokus gerückt.

Die Deutsche Hochdruckliga erläutert die Neuerungen, die sich aus den jüngst in Mailand auf dem Kongress der ESH vorgestellten Leitlinien für die Praxis ergeben:

Drei Stadien der Hypertonie

Deutlicher herausgestellt wird jetzt der Grad der Organschädigungen, der zur Unterteilung in Hypertonie-Stadien herangezogen wird. Schon in älteren Leitlinien gab es diese Gradierung, die aber im Alltag kaum zu finden war. Das Hypertonie-Stadium 1 beschreibt eine unkomplizierte Bluthochdruckerkrankung ohne blutdruckassoziierte Organschäden. Bei Stadium 2 liegt, begleitend zur Hypertonie, ein Diabetes mellitus oder bereits eine bluthochdruckassoziierte chronische Nierenkrankheit (CKD) Grad 3 vor. Das Stadium 3 der Hypertonie ist durch kardiovaskuläre Endorganschaden oder eine CKD Grad ≥ 4 gekennzeichnet. „Diese Einteilung der Hypertonie in Klassen ist wichtig, um den fortschreitenden Charakter der Erkrankung zu verdeutlichen und darzustellen, dass eine Hypertonie Schäden produziert, die dann für die Patientin/den Patienten ein noch höheres Risiko nach sich ziehen. Die Dringlichkeit einer zügigen Intervention wird damit auch deutlich“, erklärt Prof. Markus van der Giet, Vorstandsvorsitzender der Deutschen Hochdruckliga.

Pragmatische Zielwertdefinition 

Die Zielwertdefinition hingegen ist in der aktuellen Leitlinie trotz der Betonung der Risiken für Endorganschäden etwas weniger restriktiv. Einziges Diktum ist, dass alle Betroffenen Blutdruckwerte unter 140/80 mmHg erreichen sollen – wohl wissend, dass mit Werten unter 130/80 mmHg das Risiko für Endorganschäden noch weiter abgesenkt werden kann. Dafür ist aber häufig eine intensivere Therapie nötig, die von vielen Betroffenen nicht toleriert wird. „Die Leitlinien geben uns Ärztinnen und Ärzten einen Rahmen vor, in dem wir pragmatisch agieren können. Patientinnen und Patienten, die eine intensivere Blutdrucksenkung problemlos vertragen, können wir auf niedrigere Werte einstellen. Wir sind aber nicht gezwungen, therapieintolerante Betroffene auf einen Optimalwert zu senken, was häufig dazu führt, dass diese Patientinnen und Patienten dann gar keine Blutdrucksenker mehr einnehmen und nicht mehr in die Hausarztpraxis kommen“, kommentiert van der Giet. Die neuen Leitlinien geben nach Ansicht der Deutschen Hochdruckliga somit den Ärztinnen und Ärzten mehr Spielraum für eine individualisierte und patientenzentrierte Hypertonietherapie. Prinzipiell soll vor Beginn der medikamentösen Therapie immer eine individuelle Risikoeinschätzung erfolgen. Zur Abschätzung des kardiovaskulären Gesamtrisikos werden in den neuen Leitlinien der SCORE2 bzw. SCORE-OP (für ältere Patientinnen und Patienten) empfohlen. „Nur so ist eine risikoadaptierte Bluthochdrucktherapie möglich“, erklärt der Experte.

Screening, Risikofaktoren und Definition neuer relevanter Komorbiditäten

Darüber hinaus weist die Leitlinie auf neue Komorbiditäten hin, die das kardiovaskuläre Risiko bei Hypertonie erhöhen. Dazu gehören Schlafstörungen (inkl. OSAS), COPD, chronische inflammatorische Erkrankungen, nicht alkoholische Fettlebererkrankung (NASH), chronische Infektionen (inkl. COVID-19) sowie Migräne und depressive Erkrankungen. „Es ist wichtig, diese Zusammenhänge zu kennen und bei Menschen mit diesen Diagnosen auch gezielt auf Bluthochdruck zu screenen bzw. bei bekannter Hypertonie das erhöhte kardiovaskuläre Risiko der Betroffenen im Hinterkopf zu behalten“, betont van der Giet.

Empfohlen wird das Screening auf Hypertonie bei jeder sich bietenden Gelegenheit. Bei Menschen, die das 40. Lebensjahr vollendet haben, sollte in der Hausarztpraxis mindestens einmal pro Jahr eine Blutdruckmessung durchgeführt werden, bei Risikopatientinnen und -patienten auch schon bereits in jüngeren Jahren. Hier wurde erheblich pragmatisch vereinfacht, wie die Deutsche Hochdruckliga herausstellt.

Ebenso beschreibt die Leitlinie neue Hypertonierisikofaktoren wie Bluthochdruck oder bluthochdruck-assoziierte Komplikationen während der Schwangerschaft (Präeklampsie/Eklampsie), ein frühes Einsetzen der Menopause, geringes Geburtsgewicht, Migrationshintergrund sowie eine erhöhte Luftverschmutzungs- und Lärmexposition. Auch die geschlechtsangleichende Hormontherapie bei transsexuellen Menschen wurde als neuer Risikofaktor für eine Hypertonie identifiziert.

„Es ist wichtig, dass alle Ärztinnen und Ärzte die neuen Risikofaktoren kennen und bei Betroffenen regelmäßig Blutdruckmessungen durchführen“, erklärt der Vorstandsvorsitzende der Deutschen Hochdruckliga. „Auch sollten sie alle Patientinnen und Patienten mit Risikofaktoren auf die Gefahr von Bluthochdruck hinweisen und sie zu Präventionsmaßnahmen ermuntern, vor allem zu einer gesunden, salzarmen Ernährung und ausreichend Bewegung. Auch Achtsamkeit zur Stressreduktion bekommt einen Stellenwert.“

Besonderer Fokus: Die Nierenfunktion

Besonders hervorgehoben wird außerdem die Sekundärprävention im Hinblick auf die chronische Nierenkrankheit (CKD). Die Leitlinie empfiehlt, bei Erstdiagnose der Hypertonie die geschätzte glomeruläre Filtrationsrate (eGFR nach EPI-CKD-Formel), einen Ultraschall der Nieren sowie die Bestimmung des Albuminverlusts über die Niere im spontanen Morgenurin. Prof. Julia Weinmann-Menke, Pressesprecherin der Deutschen Gesellschaft für Nephrologie (DGfN), zeigt sich besonders erfreut über die Empfehlung zur Urinuntersuchung: „Die Leitlinie hebt hervor, dass die eGFR und die Albumin-Kreatinin-Ratio zwei unabhängige Risikofaktoren sind. Bisher wurde die Erhebung der Albumin-Kreatinin-Ratio im Urin nur vorgenommen, wenn die eGFR bereits eingeschränkt und die Nieren schon geschädigt waren. Eine erhöhte Albuminurie zeigt aber schon frühzeitig und auch unabhängig von der eGFR einen Nierenschaden an und ist somit ein echter Früherkennungsmarker. Die DGfN setzt sich seit Jahren dafür ein, diesen Marker auch in die allgemeinen Check-up-Untersuchungen zu integrieren – bisher vergeblich. Wir werten die aktuelle Leitlinie so, dass sich hier nun endlich ein Paradigmenwechsel abzeichnet.“

Sowohl Prof. Weinmann-Menke als auch Prof. van der Giet betonen aber, dass die Therapie einer beginnenden hypertonieassoziierten, chronischen Nierenerkrankung in der Hausarztpraxis erfolgen kann. „Oft ist allein die medikamentöse Blutdrucksenkung ausreichend, um das Fortschreiten der Nierenschädigung zu stoppen.“ Eine Überweisung zur Nephrologin oder zum Nephrologen ist nach Ansicht beider erst zu empfehlen, wenn die Nierenfunktion unter 60 ml/min/1,73 m2 liegt oder Blut im Urin ist, das nicht durch eine urologische Erkrankung erklärbar ist, nennenswerte Mengen Eiweiß im Urin sind, der Blutdruck auch mit drei Medikamenten nicht zu kontrollieren ist, die Nierenfunktion rasch abnimmt oder ein begründeter Verdacht auf eine spezifische Nierenerkrankung vorliegt (z.B. eine polyzystische Nierenerkrankung).

In den neuen ESH-Leitlinien ist auch ein Kapitel zur Blutdruckeinstellung bei Menschen mit CKD zu finden. Bei CKD-Patientinnen und -Patienten ohne Albuminurie sollte der Blutdruck in den Bereich 130/70–139/79 mmHg abgesenkt werden. Bei Vorliegen einer Albuminurie über 150 mg/Tag wird eine Senkung auf unter 130/80 mmHg empfohlen.

Bei Hypertoniepatientinnen und -patienten, die bei Erstdiagnose keine hypertonieassoziierten Organschädigungen aufweisen, empfehlen die Leitlinien alle drei Jahre die erneute Durchführung der Screeninguntersuchungen. Bei Patientinnen und Patienten mit vorbestehenden Schädigungen sollte das Screening engmaschiger erfolgen, wobei die Leitlinien keine genauen Zeitangaben machen. „Wir Nephrologinnen und Nephrologen empfehlen bei Hypertoniepatientinnen und -patienten mit leichten Nierenschädigungen die jährliche Erhebung der eGFR und der Albumin-Kreatinin-Ratio. Nur so kann sichergestellt werden, dass das Zeitfenster für den Einsatz moderner Medikamente wie z. B. SGLT2-Inhibitoren, die den Nierenfunktionsverlust wirksam aufhalten können, nicht verpasst wird. Denn diese Medikamente dürfen initial nur verschrieben werden, wenn die eGFR noch nicht unter 25 ml/min/1,73 m2 liegt“, sagt van der Giet.

Das abschließende Fazit des Experten lautet: „Die neuen Leitlinien sind im Hinblick auf die Sekundärprävention ein Meilenstein und werden dazu beitragen, dass weniger Menschen infolge ihrer Hypertonie schwer nierenkrank werden und einer Nierenersatztherapie bedürfen.“