Neuro-COVID: Abgeschwächte antivirale Immunantwort im Nervenwasser

Schematische Darstellung einer Liquorpunktion und -analyse. (Foto: ©rumruay – stock.adobe.com)

Einige COVID-19-Patienten entwickeln neurologische Begleit- und Folgeerkrankungen, die unter dem Begriff ‚Neuro-COVID‘ zusammengefasst werden. Eine Studiengruppe der Universitäten Münster und Duisburg-Essen hat das Nervenwasser von solchen Patienten analysiert und auf zellulärer Ebene Zeichen einer verminderten Immunantwort auf SARS-CoV-2 im Nervensystem gefunden.

Zahlreiche Fallberichte und Studien haben neurologische Begleiterscheinungen bei COVID-19-Patienten beschrieben. Sehr häufig sind Geruchs- und Geschmacksstörungen. Es kann aber während der Virusinfektion auch zu diffusen Hirnschädigungen (Enzephalopathien) mit neurologischen und psychiatrischen Auffälligkeiten, zu einer Entzündung von Gehirn und Rückenmark (Enzephalomyelitis) oder zu Schlaganfällen kommen. Aufgrund dieser Beobachtungen spricht die internationale Fachwelt von ‚Neuro-COVID‘. Doch warum entwickeln einige Patienten neurologische Symptome, andere hingegen nicht?

Eine mögliche Erklärung liefert nun ein neurologisches Kooperationsprojekt der Universitäten Münster und Duisburg-Essen: Die Arbeitsgruppe identifizierte ein spezifisches Immunzellprofil im Nervenwasser von ‚Neuro-COVID‘-Patienten. Diese Veränderungen traten hingegen nicht bei Patienten mit viralen Enzephalitiden auf. Nur bei ‚Neuro-COVID‘-Patienten fanden sich vermehrt erschöpfte T-Zellen und dedifferenzierte Monozyten. Beide Zelltypen spielen bei der Immunabwehr eine wichtige Rolle. Darüber hinaus war auch die Interferonantwort schwächer als bei Patienten mit viraler Enzephalitis. Bei Patienten mit schweren ‚Neuro-COVID‘-Verläufen war dieser Effekt sogar deutlich ausgeprägter als bei jenen mit milderen Symptomen.

„Zusammenfassend deutet das auf eine verminderte Immunantwort im Nervensystem auf SARS-CoV-2 hin“, erklärt PD Dr. Gerd Meyer zu Hörste, Oberarzt der Klinik für Neurologie mit Institut für Translationale Neurologie in Münster und federführender Autor der Studie. Wie der Experte weiter ausführt, haben verschiedene Studien ganz ähnliche Veränderungen im Blut von COVID-19-Patienten mit schweren pulmonalen Verläufen dokumentiert. „Unsere Daten deuten darauf hin, dass neurologische Symptome und Folgeerkrankungen somit keine reinen ‚Nebenerscheinungen‘ einer schweren pulmonalen COVID-19-Erkrankung, sondern eine eigenständige Entität darstellen könnten.“

Wie Prof. Peter Berlit, Generalsekretär der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN), ergänzt, könnte das ein Erklärungsansatz für neurologische Beschwerden von ansonsten nahezu asymptomatischen COVID-19-Patienten sein. „Das Irritierende an COVID-19 ist ja gerade, dass auch Betroffene mit ganz leichten Krankheitsverläufen zum Teil schwere neurologische Symptome entwickeln können – ohne dass bisher eine Vorhersage möglich ist.“

Letzteres könnte mit den vorliegenden Studiendaten perspektivisch verbessert werden. Wie die Studienautoren ausführen, liefern die vorliegenden Ergebnisse eine Rationale dafür, Studien aufzulegen, um Veränderungen im Nervenwasser longitudinal zu beobachten und prädiktive Marker für eine neurologische Beteiligung zu identifizieren. „Möglicherweise lässt sich dann nach einer Nervenwasseranalyse nach Infektion mit SARS-CoV-2 schon vorhersagen, ob der Betroffene neurologische Symptome entwickeln wird“, erklärt Prof. Heinz Wiendl, der Direktor der Klinik für Neurologie Münster.

Originalpublikation:
Michael Heming M et al. Neurological Manifestations of COVID-19 Feature T Cell Exhaustion and Dedifferentiated Monocytes in Cerebrospinal Fluid. Immunity, 22. Dezember 2020.