Spreading Depolarization als Auslöser für postiktale Störungen19. September 2025 Aufnahme langsamer Depolariationswellen, sogenannte Spreading Depolarization (SD), nach einem epileptischen Anfall. (Quelle: © Universitätsklinikum Bonn/ AG Prof. Wenzel) Insbesondere Menschen mit Schläfenlappenepilepsie wandern nach einem Anfall häufig bewusstseinseingeschränkt und ziellos umher. Forschende aus Bonn haben nun einen Mechanismus entdeckt, der dieses sogenannte post-ictal wandering und möglicherweise auch andere postiktale Störungen auslöst. Im klinischen Alltag werden regelmäßig Symptome nach epileptischen Anfällen beobachtet, sogenannte „postiktale Störungen“, die im Gegensatz zu der in der Regel kurzen Anfallsdauer zumeist mehrere Minuten bis Stunden dauern. Neben beispielsweise Verwirrung, Sprach- und Sprachverständnisstörungen kann auch ein Zustand der Desorientierung auftreten. Dieses gewahrlose Umherlaufen, fachsprachlich postictal wandering, kann lebensgefährlich sein, wenn die betroffene Person beispielsweise desorientiert auf die Straße läuft. „Postiktale Störungen werden traditionell auf den vorhergehenden epileptischen Anfall bezogen. Es ist allerdings unklar, ob tatsächlich ein direkter neurobiologischer Zusammenhang besteht oder die Störungen auf einer anderen Pathologie fußen“, erklärt Korrespondenzautor Prof. Michael Wenzel von der Klinik für Epileptologie am Universitätsklinikum Bonn (UKB). Gehirnwellen legen neuronales Netzwerk lahm Die Forschenden wollten anfangs die Entstehung von Epilepsie infolge einer initialen Akuterkrankung besser verstehen – hier der Virusenzephalitis. Dazu nutzten sie im Mausmodell hochauflösende Fluoreszenzmikroskopie in Kombination mit Elektrophysiologie und Optogenetik. Diese Methoden erlauben es, Netzwerkdynamiken im lebenden Gehirn und die Kommunikation verschiedener Hirnzelltypen über Monate hinweg zu untersuchen. „Dabei fanden wir zufällig ein Netzwerkphänomen im Hippokampus […], das postiktale Störungen erklären könnte, allerdings überraschenderweise nicht die Anfälle selbst darstellt“, berichtet Erstautor Bence Mitlasóczki, Doktorand in der Arbeitsgruppe von Prof. Wenzel. Bei dem beobachteten Phänomen handelt es sich um langsame Depolarisationswellen, die hauptsächlich durch neurologische Erkrankungen wie Migräne oder akute Gehirnverletzungen bekannt sind. Bei dieser Spreading Depolarization (SD) kommt es zum Zusammenbruch des neuronalen Membranpotenzials und zu dem Ausfall des betroffenen Netzwerks für Minuten bis Stunden. Die Strukturen im inneren Bereich des Temporallappens wie dem Hippokampus könnten bei Auftreten epileptischer Anfälle sensitiver für SD sein als der Neokortex. „Das könnte auch erklären, warum postiktale Symptome am häufigsten bei Temporallappenepilepsien beobachtet werden“, führt Mitlasóczki aus. Außerdem werden SD Wellen im klinischen Standard EEG in der Epileptologie herausgefiltert, da sie so langsam sind. „Somit sind SD seit Jahrzehnten im klinischen EEG ‚unsichtbar‘, was einen wichtigen Grund darstellt, warum das streng anfallsbezogene Konzept für postiktale Störungen fortbesteht, obwohl dies womöglich gar nicht stimmt“, konstatiert Wenzel. Anfallsassoziierte Spreading Depolarization bei Menschen mit Epilepsie Zudem fanden die Forschenden Hinweise, dass anfallsassoziierte SD auch in tiefen menschlichen Hirnregionen existieren. Dazu nutzten sie die prächirurgische Diagnostik von Personen mit schwer behandelbarer Epilepsie. Diese prüft, ob ein lokaler Anfallsherd chirurgisch entfernt werden kann. Im Rahmen der Studie untersuchte das Forschungsteam zunächst einige Teilnehmenden mittels der zur Diagnose implantierten Elektroden mit zusätzlichen Mikrodrahtbündeln. Ziel war es, zu prüfen, ob lokale SD auch im menschlichen Gehirn nachweisbar ist. Dafür wurde die EEG-Bandbreite über den internationalen Standard hinaus erweitert, um so auch sehr langsame Potenzialschwankungen erfassen zu können. Das Fazit der Forschenden ist, dass epileptische Anfälle, wenngleich seit Jahrzehnten angenommen, womöglich nicht die direkte Ursache postiktaler Störungen sind. „Unsere Hypothese ist, dass lokale anfallsassoziierte SD einen Schlüsselfaktor in der Epilepsie darstellt, der bislang massiv unterstudiert ist“, erzählt Co-Autor Prof. Heinz Beck. Die Ergebnisse weisen auf eine mögliche allgemeine Rolle von SD in einer Vielzahl unterschiedlicher postiktaler Störungen hin. Diese müssen nun weiter untersucht werden. „Zudem erfordern unsere Ergebnisse eine erneute Durchsicht bisheriger Studien, die, weil SD herausgefiltert wurden, Effekte und Effektgrößen auf epileptische Anfälle bezogen, obwohl dem möglicherweise gar nicht so ist“, erläutert Wenzel. „Zuletzt könnte unsere Studie eine Debatte anstoßen, ob der internationale EEG-Standard erweitert werden muss, um SD auch im klinischen EEG direkt sichtbar zu machen.“
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