Reizdarmsyndrom: Offenes Scheinmedikament funktioniert genauso gut wie Doppelblind-Placebo

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In einer randomisierten klinischen Studie haben Forscher herausgefunden, dass Teilnehmer mit mittelschwerem bis schwerem Reizdarmsyndrom (RDS), die wissentlich nur mit einer pharmakologisch inaktiven Präparat behandelt wurden (offenes Placebo), dennoch über klinisch bedeutsame Verbesserungen ihrer RDS-Symptome berichteten.

Personen, die ein solches offenes Placebo erhielten, zeigten Verbesserungen, die signifikant stärker waren als die, die Teilnehmern aus einer Kontrollgruppe ohne Scheinmedikament angaben. Die Studienautoren beobachteten keinen Unterschied in der Symptomverbesserung zwischen Patienten, die offene oder doppelblinde Placebos erhielten. Die Ergebnisse bauen auf früheren Erkenntnissen des Forschungsteams auf und stellen die seit Langem bestehende Auffassung infrage, dass eine Verblindung beziehungsweise eine „Täuschung“ der Patienten Schlüsselelemente des Placebo-Effekts sind.

„Das klinische Ansprechen auf ein offenes Placebo in dieser sechswöchigen Studie war hoch. 69 Prozent der Teilnehmer, die ein offenes Placebo erhielten, berichteten von einer klinisch bedeutsamen Verbesserung ihrer Symptome“, berichtet Erstautor Dr. Anthony J. Lembo von der Abteilung für Gastroenterologie am Beth Israel Deaconess Medical Center (BIDMC) in Boston (USA). „Das RDS ist einer der häufigsten Gründe für Konsultationen im Gesundheitswesen und für Fehlzeiten bei der Arbeit oder in der Schule. Wirksame Behandlungsmöglichkeiten für RDS sind begrenzt. Wir nahmen an, dass es möglich sein könnte, den Placebo-Effekt auf ethische Art und Weise für einen klinischen Benefit zu nutzen.“

An der streng konzipierten klinischen Studie nahmen 262 erwachsene Personen im Alter zwischen 18 und 80 Jahren teil, die an einem mindestens mittelschweren RDS litten. Dies wurde mit dem validierten RDS-Schweregrad-Scoring-System (IBS-SSS) gemessen, mit dem sich Häufigkeit und Schweregrad von abdominalem Schmerz und Distention sowie Lebensqualität und andere relevante Faktoren auf einer Skala von 0-500 abbilden lassen. Die Teilnehmer wurden untersucht, füllten Fragebögen aus und wurden randomisiert einem von drei Studienarmen zugeordnet. Darin erhielten sie entweder ein offenes Placebo oder ein doppelblindes Placebo (Doppelblind-Placebo oder Doppelblind-Pfefferminzöl) oder bildeten die Kontrollgruppe ohne Scheinmedikament. Während ihrer Untersuchungen besprachen alle Probanden mit ihren Ärzten den Placebo-Effekt, die Studie und deren Ziele.

Die Open-Label-Gruppe erhielt Tablettenfläschchen mit der Bezeichnung „Open-Label-Placebo“ und wurde darüber aufgeklärt, dass die darin enthaltenen Pillen keine pharmakologische Wirkung besaßen, durch den Placebo-Effekt aber dazu führen könnten, dass sich die Patienten besser fühlten. Die Patienten aus der Doppelblind-Gruppe erhielten Tablettenfläschchen mit der Bezeichnung „Doppelblind-Placebo oder Pfefferminzöl“. Dabei bestand der Inhalt des Fläschchens in dieser Gruppe entweder aus Placebo oder einem identischen Präparat mit Pfefferminzöl, worüber aber weder die Probanden noch die Studienautoren Kenntnis hatten.

Alle Teilnehmer, die ein Präparat erhielten, wurden angewiesen, 30 Minuten vor den Mahlzeiten dreimal täglich eine Dosis davon einzunehmen. Die Kontrollgruppe ohne Scheinmedikament folgte ansonsten dem selben Studienprotokoll wie die anderen beiden Gruppen. Während der drei und sechs Wochen nach Studienbeginn stattfindenden Folgetermine füllten alle Teilnehmer Fragebögen aus, wurden in persönlichen Gesprächen zu unerwünschten Ereignissen befragt und trafen sich kurz mit einem Studienarzt.

Lembo und Kollegen stellten fest, dass die Verbesserung der IBS-SSS-Werte zwischen Studienbeginn und dem Ende nach sechs Wochen in der Gruppe mit offenem Placebo signifikant größer war als in der Kontrollgruppe ohne Scheinmedikament. Außerdem berichteten die Teilnehmer aus der Doppelblind-Placebo-Gruppe über eine stärkere Symptomverbesserung im Vergleich zur Kontrollgruppe. Die Gruppen mit Doppelblind- beziehungsweise offenem Placebo unterschieden sich aber nicht voneinander.

Als nächstes führten die Forscher eine Post-hoc-Analyse zu denjenigen Teilnehmern durch, bei denen starke (mindestens 50 Punkte) beziehungsweise sehr starke (mindestens 150 Punkte) klinische Verbesserungen festgestellt wurden. In der Gruppe mit offenem Placebo sowie in der Doppelblind-Placebo-Gruppe berichtete ein größerer Prozentsatz der Teilnehmer über eine Reduktion des RDS-Schweregrades um 50 Punkte als in der Kontrollgruppe ohne Scheinmedikament (ca. 70 % in jeder Placebo-Gruppe im Vergleich zu 54 % in der Kontrollgruppe ohne Scheinmedikament).

Ebenso berichteten ungefähr 30 Prozent der Probanden aus der Gruppe mit offenem Placebo und aus der Doppelblind-Placebo-Gruppe über eine Verringerung der RDS-Symptome um 150 Punkte, verglichen mit nur 12 Prozent der Kontrollgruppe.

„Wenn die Annahme, dass eine Täuschung notwendig ist, damit Placebos wirken, falsch ist, müssen möglicherweise viele Theorien über die Mechanismen, die Placeboeffekte auslösen, geändert werden“, sagt Dr. Ted J. Kaptchuk vom BIDMC und Seniorautor der Studie. Der Leiter des „Program in Placebo Studies and the Therapeutic Encounter“ am BIDMC hatte im Jahr 2010 gemeinsam mit Kollegen die Ergebnisse der nach Angaben der Autoren ersten randomisierten kontrollierten Studie veröffentlicht, die zeigte, dass Patienten mit RDS gut auf die Behandlung mit einem offenem Placebo ansprechen.

Nachfolgende Untersuchungen kamen zu ähnlichen Ergebnissen bei Patienten mit sogenannten subjektiven Symptomen, darunter Schmerzen im unteren Rückenbereich, Knieschmerzen, krebsbedingte Fatigue, Migränekopfschmerzen, Hitzewallungen in den Wechseljahren und allergische Rhinitis. „Unsere Feststellung, dass ein offenes Placebo genauso wirksam sein kann wie ein doppelblindes, hat Auswirkungen auf die klinische Praxis und auf die zukünftige Forschung, insbesondere bei chronischen viszeralen und somatischen Schmerzzuständen“, so Kaptchuk.